- Krebs [5]
Krebs (Krebsschade, Krebsgeschwür, Karzinom, griech.-lat. Carcinoma, lat. Cancer), ein von Galenus in die Medizin eingeführter Name, der ursprünglich auf harte Geschwülste der weiblichen Brust angewendet wurde, deren erweiterte, bläulich durchscheinende Gefäßverzweigungen entfernte Ähnlichkeit mit den Füßen eines Flußkrebses darbieten sollten. Später wurden alle möglichen bösen Gewächse als K bezeichnet, selbst solche, bei denen der eigentliche Geschwulstcharakter ganz in den Hintergrund trat und der Krebsschade die Gestalt eines bösartigen, um sich fressenden Geschwürs angenommen hatte. So ist noch heute derselbe Name, allerdings in französischer, bez. lateinischer Übersetzung, für eine Art der Geschwüre in Gebrauch, die in das Kapitel der Syphilis als Schanker (franz. chancre, lat. cancer) eingereiht worden sind. Da die Gewächse bis in den Anfang des 19 Jahrh. nach rein äußerlichen Modifikationen ihrer Erscheinung benannt wurden, so sind einerseits früher viele Geschwülste als Krebse bezeichnet worden, die heute anders benannt werden, und zum andern gibt die alte Einteilung der Krebsgewächse, Karzinome, in Blutschwämme, Markschwämme, Alveolarkrebse, Kankroide, Scirrhusformen etc. nur Namen für äußerliche Abarten einer Neubildung, deren Wesen nicht durch diese Erscheinung, sondern durch den innern Aufbau ihrer Gewebe bestimmt wird. Dieser Bau, der im wesentlichen allen echten Krebsgewächsen gemeinsam ist, läßt ähnlich wie der Bau eines drüsigen Organs zwei verschiedene Gewebsbestandteile unterscheiden: 1) das Krebsgerüst (stroma) und 2) das zwischen diesem gelegene eigentliche Krebsgewebe, d. h. die krankhaft wuchernden Epithelzellen. Diese werden als Krebssaft (Krebsmilch) bei Druck auf die durchschnittene Geschwulst oder beim Darüberfahren mit dem Messer ausgepreßt. Dadurch, daß das aus Bindegewebe bestehende Gerüst maschenförmig angeordnet ist, ähnelt das Aussehen des Krebses oft dem einer Drüse, deren einzelne Hohlräume (Alveolen) in Bindegewebe eingebettet sind. Der K. unterscheidet sich aber von solchen Drüsen oder von harmlosen Wucherungen derselben dadurch, daß seine Epithelzellen schrankenlos und in ungeordneter Weise in die Umgebung hineinwachsen. Diese Wucherung bedingt das rasche Wachstum der Karzinome, die sich außerdem noch durch ihre Neigung zu geschwürigem Zerfall, durch frühzeitige Bildung von Metastasen und durch örtliche Rezidive nach operativer Entfernung auszeichnen. Als Grundlage einer wissenschaftlichen Einteilung der Krebsgeschwülste dienen gewisse Abarten des Stromas und der Krebszellen. Eine sehr zellenreiche Neubildung mit zartem Gerüst, die sehr weich ist, nennt man Medullarkrebs. Eine sehr harte, schwielig derbe Geschwulst, deren Stroma vorwiegend entwickelt, deren zellenerfüllte Räume aber klein sind, nennt man Scirrhus. Die Mitte zwischen beiden bildet das Carcinoma simplex. Den früher ausschließlich als C. alveolare bezeichneten K. nennt man Kolloid- oder Gallertkrebs, weil in ihm das Gewebe eine gallertige Umwandlung eingeht. Sind Zellen und Gerüst pigmentiert, wie bei den Krebsgeschwülsten, die von pigmentierten Geweben (Auge, Hautwarzen) ausgehen, so heißt die Geschwulst C. melanodes. Enthält der K. Zellen, die ganz den Zellformen seines Mutterbodens analog sind, wie die Karzinome der Haut und einiger Schleimhäute, die eine epidermoidale Decke haben, so spricht man von Kankroiden (Epithelialkrebsen). Zu diesen gehört das Kankroid am Hodensack, wegen seines häufigen Vorkommens bei Schornsteinfegern Schornsteinfegerkrebs genannt. Die Kankroide sind im ganzen weniger gefährlich als die andern Formen.
Der K. tritt beim Mann am häufigsten im Magen, beim Weib in der Brustdrüse auf, dann folgen der Häufigkeit nach beim Weib die Geschlechtsorgane (besonders Gebärmutter), bei beiden Geschlechtern sodann Speiseröhre und Mastdarm, Darm, Lippen, Haut. Anfangs bildet der K. eine knotige, nicht ganz scharf begrenzte Verhärtung, und auch bei weiterm Wachstum kann er diesen Charakter bewahren; liegt er aber nahe an einer Oberfläche, so verfällt er leicht der Verschwärung; es bildet sich ein Krebsgeschwür, im Sinne der Alten ausgedrückt, wird der Cancer occultus ein C. apertus. Ein solches Geschwür bietet in der Regel ein sehr unregelmäßiges Aussehen, eine schnell wuchernde, meist stinkende und stark absondernde Oberfläche dar. Eine wesentliche Eigentümlichkeit des Krebses ist die, daß er in Organen oder Körpergegenden, die von dem vom K. ergriffenen Gebiet entfernt liegen, z. B. in Magen, Leber, Lunge, Knochenmark, infolge von Verschleppung von Krebsgeschwulstkeimen meist vermittelst der Lymphbahnen, seltener vermittelst der Blutgefäße, als sekundärer K. oder Krebsmetastase auftritt. Die Krebsgeschwulst nimmt zuweilen einen bedeutenden Umfang an, sie kann bis zur Größe eines Manneskopfes und darüber wachsen. Als Symptom des Krebses steht ein reißender, schießender, brennender, plötzlich auftretender und dann wieder nachlassender Schmerz, der meist durch den Druck auf die Umgebung veranlaßt wird, im Vordergrund, oft aber verläuft der K. lange Zeit ganz schmerzlos und unbemerkt. Während der Entwickelung schwellen die benachbarten Lymphdrüsen an; das anfänglich ungestörte Wohlbefinden schwindet allmählich; der Kranke verliert den Appetit, die Haut wird bleich und bekommt eine eigentümlich fahle Färbung; die Krebsgeschwulst zerfällt geschwürig, und unter allgemeiner Erschöpfung (Krebskachexie, s. d.) tritt der Tod ein. Zuweilen entstehen auch infolge des geschwürigen Gewebszerfalles, bei dem größere Gefäße arrodiert (angefressen) werden, heftige Blutungen, die den Tod herbeiführen.
Die Krebskrankheit hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen, und zwar in den Städten fast doppelt so stark wie auf dem Land. In Großstädten, die sich doch der besten hygienischen Verhältnisse erfreuen, ist die Sterblichkeit an K. am größten, z. B. in Berlin 62,3 auf 100,000 Einw.; in Preußen starben von je 100,000 Lebenden 1881: 31,2, 1886: 38,5, 1890: 43,1, 1896: 55,2, 1900: 61,1 an K. In England ist die Sterblichkeit von 7245 in 1861 auf 17,113 in 1887 gestiegen. Diese Zunahme betrifft vor allem die bessern Stände und ist in erster Linie durch eine Mehrsterblichkeit des weiblichen Teils der Bevölkerung bedingt. Man hat mehrfach dieses häufigere Vorkommen des Krebses durch die verbesserte ärztliche Diagnose, auch durch genauere und bessere Registrierung der Todesursachen zu erklären gesucht, aber die Zunahme ist doch viel zu bedeutend und gleichmäßig, als daß sie im wesentlichen in einer verbesserten Sterblichkeitsstatistik ihre Erklärung fände. Eine auf Veranlassung des Komitees für Krebsforschung 15. Okt. 1900 unternommene Sammelforschung, betreffend alle innerhalb des Deutschen Reiches in ärztlicher Behandlung befindlichen Krebskranken (vgl. den Bericht, Jena 1902), ergab auf 1 Mill. Einw., auf das ganze Reich berechnet, 215, für die großen Städte 280 Kranke. Die Krebssterblichkeit ist geographisch auffallend verschieden (vgl. die Karte bei Art. »Krankheit«, S. 588); an bestimmten Orten wurde wiederholt ein häufigeres Auftreten, ein sogen. endemisches Vorkommen, beobachtet; zahlreiche Beispiele lassen nicht nur in manchen Stadtvierteln und Straßen sowie Dörfern, sondern speziell auch in einzelnen Häusern eine auffallende Krebshäufigkeit erkennen. Alle diese und andre Beobachtungen weisen darauf hin, daß es sich vielleicht um ein gewisses infektiöses Agens handelt. Verschiedene Forscher (Leopold, von Leyden u. a.) haben in Krebszellen eigenartige rundliche Gebilde gefunden, die sie als Protozoen betrachten, und auf deren eigenartigen Reiz sie die starke Wucherung und Vermehrung der sie beherbergenden Zellen zurückführen. Diese Gebilde ähneln gewissen Protozoen, die auf Pflanzen vorkommen und an diesen Geschwülste hervorbringen, z. B. der Myxamöbe Plasmodiophora brassicae, welche die unter dem Namen »Kohlhernien« oder »Kohlkropf« bekannten Wurzelgeschwülste bei Kohlarten hervorbringt. Die Untersuchungen hierüber sind jedoch keineswegs abgeschlossen und ihre Ergebnisse werden von vielen namhaften Autoren verworfen, die an der alten histogenetischen oder zellularen Theorie festhalten, wonach normale Zellen aus innern Ursachen schrankenloser Wucherung verfallen, entweder als wiedererwachende, bei der embryonalen Entwickelung liegen gebliebene, mit der ganzen jugendlichen Wachstumsenergie ausgestattete Keime (Cohnheim), oder dadurch, daß durch Entzündungen, Verletzungen und ähnliche Ursachen einzelne Epithelzellen aus ihrem Verband losgelöst werden und, nichtmehr eingeschränkt durch den Druck und das konkurrierende Wachstum ihrer Nachbarzellen, zu wuchern beginnen.
Die eigentliche Ursache der krebsigen Entartung der normalen Gewebselemente ist also noch in Dunkel gehüllt. Unentschieden ist auch die Frage nach der Erblichkeit des Krebses; die genannte Sammelforschung macht sie nicht wahrscheinlich, jedoch wird vielleicht eine gewisse Disposition zum K. vererbt. Direkte Ansteckung muß, wenn sie auch sicher sehr selten ist, immerhin als möglich bezeichnet werden. Gleichzeitige Erkrankung beider Ehegatten an K. ist verhältnismäßig häufig. Ist Verdacht vorhanden, daß eine Verhärtung krebsiger Natur sei, so ist es immer dringend geraten, die Geschwulst so früh wie möglich auszuschneiden. Ätzmittel sind viel schmerzhafter und unsicherer, weil der K. niemals von dem gesunden Gewebe scharf abgegrenzt ist, sondern die beginnende krebsige Entartung bereits in die Umgebung unsichtbar und unerkennbar übergegangen zu sein pflegt. Diese in der Umgebung schon vorhandene Entartung ist auch die Ursache der örtlichen Wiederentstehung des Krebses nach Operationen, bei denen man daher auch immer im gesunden Gewebe arbeiten muß, um ganz sicher zu sein, daß man wirklich alles Krankhafte entfernt. Oberflächliche Haut- und Schleimhautkrebse, namentlich Kankroide, werden auch erfolgreich durch Bestrahlung mittels Röntgenstrahlen und Radiumstrahlen behandelt, unter deren Einfluß die Geschwulstmassen, namentlich wenn sie nicht zu weit vorgeschritten sind, einer raschen Einschmelzung und kosmetisch günstigen Vernarbung verfallen. Soll nicht operiert werden, weil der Kranke eine Operation verweigert oder das Stadium der Entwickelung der Geschwulst schon zu weit vorgeschritten ist, so beschränkt man sich auf Linderung der Schmerzen, Beseitigung der stinkenden Absonderungen, Bekämpfung der Blutungen, kräftigende Diät. (Vgl. Gebärmutterkrankheiten.) Im Volke werden auch die Fleischgewächse (Sarkome) K. genannt. Vgl. Lebert, Traité des maladies cancéreuses (Par. 1851); Lücke, Die Lehre von den Geschwülsten (in Pitha-Billroths »Handbuch der Chirurgie«, 2. Bd., 1. Abt., Stuttg. 1867–69); Thiersch, Der Epithelialkrebs, namentlich der Haut (Leipz. 1865); Winiwarter, Beiträge zur Statistik der Karzinome (Stuttg. 1878); Alberts, Das Karzinom in historischer und ‚ experimentell-pathologischer Beziehung (Jena 1887); Adamkiewicz, Untersuchungen über den K. und das Prinzip seiner Behandlung (Wien 1893); Pfeiffer, Untersuchungen über den K. (Jena 1893); Ziegler, Lehrbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie (10. Aufl., das. 1902, 2 Bde.); die »Veröffentlichungen« (Jena 1902) und Verhandlungen (Leipz. 1902) des Komitees für Krebsforschung; Behla, Die Karzinomliteratur (bis 1900, Berl. 1901); »Die Karzinomliteratur«, bearbeitet von Sticker (Beilage zur »Deutschen Medizinalzeitung«, das. 1902 ff.).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.