- Jüdisch-deutscher Dialekt
Jüdisch-deutscher Dialekt (Judendeutsch). Die nach den Verfolgungen des Mittelalters von der zweiten Hälfte des 14. Jahrh. an aus Deutschland nach dem europäischen Osten auswandernden Juden wahrten in der Fremde mit besonderer Zähigkeit ihre hochdeutsche Muttersprache, die sie für neu hinzukommende Begriffe mit hebräischen und talmudischen Ausdrücken und Fremdwörtern durchsetzten und zu einem eigenartigen Dialekt ausbildeten, der sich bis in die Neuzeit erhielt und in religiöser Volksliteratur zur Schriftsprache wurde. Bei dem in ruhigen Zeiten erfolgten Rückfluten der jüdischen Bevölkerung nach dem Westen wurde dieser Dialekt nicht aufgegeben und bildet noch heute die Umgangssprache nicht nur vieler Juden deutscher Abstammung in Rußland, Polen, Ungarn, Bosnien, Serbien und Rumänien, sondern auch in den Ländern, in denen Jargon redende Juden eine neue Heimat fanden, wie in Deutschland, Holland, England und Amerika. Ein ähnlicher Mischdialekt, das Ladino, hat sich bei den aus Spanien stammenden Juden im Orient erhalten. (Vgl. M. Grünbaum, Jüdisch-spanische Chrestomathie, Frankf. 1896.) Man kann im Jüdisch-Deutschen vier Elementarbestandteile unterscheiden: 1) das Hebräische und zwar für Gegenstände aus dem Kreise des Judentums und des jüdischen religiösen und privaten Lebens, bei Begriffsformen, mit denen die jüdischen Studien vertraut machten, und bei Ausdrücken, bei denen man absichtlich die Landessprache vermied; 2) Kompositionen des Hebräischen und der Landessprache in vierfacher Weise: das deutsche Hilfszeitwort »sein« mit dem hebräischen Partizipium, z. B. matzil sein (erretten), meschuggo (verrückt) sein, deutsche Flexionen hebräischer Wörter, z. B. Verba durch die Endsilbenen oder n, als darschan-en (predigen), oder Adjektiva, z. B. chen-dig (anmutig) etc., Zusammensetzungen, wie Schabbeslicht (Sabbatlicht), Habdalabüchse (Gewürzbüchse), zu Wörtern erhobene Abkürzungen, z. B. Ra-T (Reichstaler), Pa-G (preußischer Groschen); 3) veraltetes oder fehlerhaftes Deutsch, teils in Anwendung für die jüdischen Gebräuche, z. B. ausrufen (zur Thora), lernen (als religiöses Studium), teils in Judaismen aller Art, in Flexionen und Konstruktionen oder im besondern Gebrauch der Wörter (sich kriegen statt streiten, königen statt regieren, Schule statt Gotteshaus), Redensarten und Sprichwörter, willkürliche Bildungen, z. B. jüdischen (beschneiden), teils endlich in einer beträchtlichen Anzahl von alten provinzialen Ausdrücken, z. B. as (daß), Ette (Vater), awekk (hinweg), der schrecken, entzünden (anzünden), Trären (Tränen) etc.; 4) aus der Fremde stammende Aussprache und Wörter, z. B. benschen (segnen, lat. benedicere), oren (beten, lat. orare), Pilzel (Magd, ital. pulcella), planjenen (weinen, lat. plangere), preien (einladen, franz. prier), Sargenes (Sterbehemd, ital. sargano, sargia) etc. – Die jüdisch-deutsche Literatur entwickelte sich namentlich in Polen und Deutschland vor der Mitte des 16. Jahrh. zum Zweck der religiösen Erbauung und Belehrung, der Verbreitung von Übersetzungen aus der profanen Literatur sowie aus der Bibel. Sie umfaßt Paraphrasen und midraschische Ausschmückungen biblischer Bücher (Zeënu urena), religiös-ethische Schriften (z. B. Zuchtspiegel, Seelenfreude, Frauenbüchlein, Buch der Frommen u. a.), Übersetzungen der Gebetbücher, Andachtsbüchlein (Techinnot), historische Werke (Schewet Jehuda u. a.), Ritualwerke (Minhagim), Sagen- und Heldenbücher, Belletristik (Jossippon, Judith, Maassebuch, Übersetzungen von »Tausendundeine Nacht«, Rittergeschichten, König Artur, Dietrich von Bern, Flor und Blancheflur u. a.), Glossare zu Bibel und Talmud, Rechtsgutachten etc. sind im jüdisch-deutschen Dialekt abgefaßt. Seit M. Mendelssohn, dem Germanisator der in Deutschland lebenden Juden, schwand das Judendeutsch immer mehr, vegetierte aber weiter in Rußland, Polen, Galizien, Rumänien etc., trotz der Bemühungen, es in einer Reformliteratur zur Aufklärung der Massen zu verwerten. Erst die seit 1880 in Rußland und Rumänien einsetzenden Verfolgungen und Bedrückungen der Juden und die zionistischen Bestrebungen, die »Judennot« zu lindern, zeitigten die Wiedergeburt des Jüdisch-Deutschen, das heute als Verkehrs- und Schriftsprache nicht nur der Juden in den genannten Ländern, sondern auch der in England, Amerika, Australien, Südafrika eingewanderten auf eine umfangreiche universelle Literatur hinweisen kann. Neben wissenschaftlichen, erbaulichen und andern Schriften wird die Belletristik von Schriftstellern wie Scheikewitz, Blustein, Rabinowitz, Peretz, Abramowitz, Buchbinder, Spektor u. a. gepflegt. Unter den Dichtern ragt M. Rosenfeld (»Songs from the Ghetto«, Boston 1898) hervor, während die jüdisch-deutsche Theater-Literatur in Goldfaden, Lateiner, M. Gordon u. a. namhafte Vertreter hat. Dem öffentlichen Verkehr, der Belehrung und Unterhaltung dienen zahlreiche jüdisch-deutsche Tages-, Wochen- und Witzblätter. Vgl. Jost in Ersch und Grubers »Enzyklopädie«, Bd. 27; Zunz, Gottesdienstliche Vorträge (2. Aufl., Frankf. a. M. 1892, S. 453 ff.); Grünbaum, Jüdisch-deutsche Chrestomathie (Leipz. 1882) und Die jüdisch-deutsche Literatur in Deutschland, Polen und Amerika (in Winter und Wünsche: »Die jüdische Literatur«, 3. Bd., S. 531 ff., Trier 1896); Dalman, Jüdisch-deutsche Volkslieder aus Galizien und Rußland (Leipz. 1888); L. Wiener, The history of yiddish literature in the nineteenth century (New York 1899); E. Bischoff, Jüdisch-deutscher Dolmetscher (Leipz. 1901); J. Gerzon, Die jüdisch-deutsche Sprache (Frankf. 1902). Das Jüdisch-Deutsche, eine Fundgrube für mittelhochdeutsches Sprachgut, harrt noch umfassender wissenschaftlicher Bearbeitung. Über das in der Gaunersprache (s. Kochemer-Loschen) aufgenommene und verarbeitete Judendeutsch vgl. Avé-Lallemant, Das deutsche Gaunertum, Bd. 3 u. 4 (Leipz. 1862), und Steinschneider, Hebräische Bibliographie (Berl. 1864).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.