Flutsagen

Flutsagen

Flutsagen, die Erzählungen von einer großen, die höchsten Bergspitzen bedeckenden Flut, die das Menschengeschlecht und alle Landtiere und Pflanzen vernichtet haben würde, wenn nicht auf mehr oder weniger wunderbare Art je ein Pärchen von ihnen errettet worden wäre. Man fand F. bei allen arischen und semitischen Völkern, dann auch in Tibet, Vorder- und Hinterindien, vom australischen Festland an über Neuguinea, durch Melanesien, Mikronesien und Polynesien bis zu den Sandwichinseln, in Amerika von den Eskimo im N. bis zu den Araukanern im S., namentlich an den Westküsten. Dagegen fehlen sie nach R. Andree in Arabien, Innerasien, ganz Nordasien, China und Japan und mit wenigen unsichern Ausnahmen fast in ganz Afrika, daher auch in der ägyptischen Mythologie. Ursprünglich war man geneigt, alle F. mit der biblischen zu vergleichen, die auf der chaldäischen beruht, von der man bereits einen aus dem 7. Jahrh. v. Chr. herrührenden, auf noch ältere Quellen zurückgehenden keilschriftlichen Bericht in Ninive gefunden hat. Daher die Festigung der Arche mit Erdpech und der Bund Noahs mit der Gottheit, der auf die polytheistische babylonische Mythe weist, nach der die übrigen Götter nicht damit einverstanden waren, daß einer von ihnen die ganze Menschheit verderben wollte, und ihn veranlaßten, den durch den Schutz des Gottes Ea einzig entkommenen Mann Xisuthros leben zu lassen und mit ihm einen Bund zu schließen, daß ähnliche Heimsuchungen sich nicht wiederholen sollen. Der Umstand, daß die ältesten Berichte bei Naturvölkern über ihre heimischen F. durch Missionare gesammelt wurden, welche die wenn auch unbewußte Absicht hatten, Bestätigungen des biblischen Berichtes und der Einheit des Menschengeschlechts zu finden, macht es in vielen Fällen schwierig, die Ursprünglichkeit, resp. Beeinflussung der Mythen dieser Völker durch die Frager zu erkennen. Immerhin zeigen sich so fundamentale Unterschiede, daß schon Grimm die Unabhängigkeit vieler altweltlicher Berichte betonte. Bei den indischen, persisch en, german ischen, slawischen und griechischen F. handelt es sich gar nicht um gegen die Menschheit gerichtete Strafgerichte. Die große Flut der »Edda«, die aus dem Körper des Urriesen Ymir hervorbricht, ist vormenschlich und vernichtet nur das Riesengeschlecht, deren einer in einem Boot entkommt; die ältere griechische Sage von Ogyges ist ähnlich und auch die von der Deukalionischen Flut erst später von der semitischen Sage beeinflußt, vielmehr der litauischen und manchen amerikanischen Formen ähnlich. Die indische Flutsage besitzt in der Rettung der Menschheit durch einen fischgestalteten Gott (Wischnu) eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit keltischen und slawischen Sagen.

Die Auffassung als göttliches Strafgericht kehrt noch bei Litauern, Kol, Mincopie, Dajak, Fidschi-, Palau- und Gesellschaftsinsulanern, bei den Algonkin in Nord- und den Arawaken in Südamerika wieder. Die Vorausverkündigung durch Tiere findet sich in Indien (durch einen Fisch), bei den Cherokeeindianern (durch einen Hund), bei den Peruanern (durch Lamas). Ein errettender Berg, den die Überlebenden erstiegen haben, oder an dem das Rettungsboot strandet, kehrt bei Assyrern, Juden, Hellenen, Indern, auf vielen Südseeinseln, in Nord-, Mittel- und Südamerika wieder; er bildet den verbreitetsten Zug der F. Die Aussendung mehrerer Vögel von seiten der Geretteten, um zu erkunden, ob sich das Wasser verlaufe, ist ein häufig wiederkehrender Zug; solche Vögelaussendung, besonders von Kundschaftsraben, entspricht aber einer verbreiteten Gewohnheit seefahrender Naturvölker. Die Neubevölkerung der Erde durch Steine, die Deukalion und Pyrrha über ihr Haupt warfen, kehrt wieder bei den Makusi in Guayana und bei den Maipuri am Orinoko, nur daß im letztern Falle die Früchte der Mauritiapalme statt der Steine gebraucht werden. In der litauischen Sage, wo ebenfalls ein altes Ehepaar die allein Überlebenden bildet, ward ihnen aufgegeben, über die Steine der Erde zu springen. »Neunmal sprangen sie, und neun Paare entsprangen, der neun litauischen Stämme Ahnen.« In andern Sagen werden überlebende Tiere in Menschen verwandelt, oder das neue Geschlecht entsteht aus Bäumen oder Kräutern.

In diesen F. suchte man früher Erinnerungen an eine wirkliche geologische Flutepoche (Diluvium), durch welche die Erdoberfläche ihre gegenwärtige Gestalt erhalten hätte, und von der die fossilen Tier- und Menschenreste herrührten; die ungeheuern Wassermengen leiteten die Gelehrten aus dem wassergefüllten Erdinnern her, indem man die dünne Erdschale einbrechen ließ, deren Reste unsre Gebirge vorstellen sollten. In dieser Form hatte Thomas Burnett in seiner »Theoria sacra telluris« (1682) die Erdgeschichte zu einem vollständigen Roman ausgearbeitet, dem Halley (1694) und William Whiston in seiner »Neuen Erdtheorie« (1696) noch einen großen zerplatzten Kometen als Erdballertränker hinzufügten. Scheuchzer fand die Reste des in der Flut ertränkten sündigen Geschlechtshomo diluvii testis«), Buckland schrieb seine »Reliquiae diluvianae« (1822), und gläubige Geologen unsrer Tage haben an den Fossilien »Sintflutsgeruch« zu verspüren gemeint. Nach Widerlegung der diluvianischen Theorien nahm man hier und da an, daß lokale Überschwemmungen diese Sage erzeugt hätten, und so wollte Sueß die chaldäische Flutsage auf eine Sturm- und Erdbebenflut zurückführen, wie sie am Persischen Meerbusen häufiger vorkommen.

Eine viel allgemeinere Entstehungsursache der F. bietet aber das verbreitete Vorkommen versteinerter Muscheln, Schnecken, Fische und andrer Seetiere in den Erdschichten hoher Berge. Schon Herodot, Eratosthenes und Xanthus sprechen von binnenländischen Seemuschelfunden als Zeugen, daß da einst das Meer stand; Tertullian weist auf die Versteinerungen der Gebirge als Zeugen der großen Flut, und Turner erzählt von den Bewohnern der Samoainseln, daß sie gerade so wie der christliche Kirchenvater die versteinerten Fischreste ihrer Berge als Zeugen der großen Flut anriefen. Und dieselbe Schlußfolgerung fand schon Cranz bei den Grönländern, Franz Boas bei den Zentraleskimo, und die Gesellschaftsinsulaner beriefen sich nach Ellis auf die versteinerten Korallen und Muscheln der hohen Berge, die dorthin nur bei der großen Flut gelangt sein können. Selbst Naturforscher, wie Rumphius und K. v. Raumer, schlossen angesichts der fossilen Riesenmuscheln (Tridacna) auf den Bergen Amboinas und hinsichtlich der Säugetierreste im Himalaja und den Anden auf die große Flut, die auch die Mammutleichen nach Sibirien geschwemmt haben sollte.

Man begreift, wie sich an ähnliche Voraussetzungen überall entsprechende Folgeschlüsse reihen mußten. Erstens mußten bei einer solchen Flut fast alle Menschen und Tiere zugrunde gehen, und wenn das mit Recht geschehen sein sollte, so mußten sie schlecht gewesen sein und die Götter erzürnt haben. Aber da es immer noch Menschen gibt, mußte wenigstens ein Paar von ihnen gerettet worden sein; gab es in der Nähe hohe Berge, so konnte dies durch Ersteigen derselben geschehen sein; fehlten dieselben, so konnten sie sich nur zu Schiffe gerettet haben. In diesem Falle mußten sie wohl durch die Gunst eines Gottes, dem sie Gastfreundschaft geboten, oder eines vorwissenden Tieres, dem sie Schutz erwiesen hatten, gewarnt worden sein und ein sicheres Schiff erbaut haben, und da es auch wieder Landtiere und Pflanzen gab, mußte der Helfer ihnen wohl geraten haben, Tierpaare und Samen in die Arche zu retten. Das sind unausweichliche Schlüsse, während die Frage der Wiederbevölkerung verschiedene Lösungsversuche hervorrief. So entstanden, da die dichtende Phantasie immer den schwierigsten Fall am liebsten nimmt, die Sagen von Deukalion und Pyrrha, die, zu alt, um auf natürlichem Wege Stammeltern eines neuen Geschlechts zu werden, aus Steinen ein solches erwecken, oder von dem allein geretteten alten Weibe der Dajak, das mit Hilfe des Feuerbohrers ein neues Wesen schuf, oder von der Jungfrau der Knistino- oder Kri-Indianer, die von einem Adler aus der Flut auf einen Felsen getragen wird und von ihm Zwillinge gebiert (nach Catlin). Manchmal pflanzen sich die allein Übriggebliebenen auch durch Schenkel- oder Seitengeburt fort, und nach dem Wiedererscheinen der Pflanzen und Tiere wird in den meisten Fällen nicht gefragt. Vgl. Diestel, Die Sintflut und die F. des Altertums (2. Aufl., Berl. 1876); Sueß, Die Sintflut (Prag 1883); Sterne, Die allgemeine Weltanschauung in ihrer historischen Entwickelung (Stuttg. 1889); Andree, Die F., ethnographisch betrachtet (Braunschw. 1891).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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