Fäulnis

Fäulnis

Fäulnis (Putrefaktion, Putreszenz), durch Bakterien herbeigeführte Zersetzung stickstoffhaltiger (eiweißartiger) pflanzlicher oder tierischer Stoffe unter Bildung stinkender Produkte. Diese Zersetzungen, bei denen die organischen Stoffe in einfachere Verbindungen und zuletzt in Kohlensäure, Kohlenwasserstoffe, Wasserstoff, Wasser, Ammoniak und Schwefelwasserstoff zerfallen, erfolgen unter denselben Bedingungen wie die analogen Zersetzungsprozesse stickstofffreier organischer Körper, die man Gärung nennt. F. und Gärung sind aus denselben Verhältnissen zu erklären, und man hat deshalb auch die F. faulige Gärung genannt. Fäulnisfähig sind vor allen die Proteïnsubstanzen: Eiweiß, Kaseïn, Fibrin, Legumin, dann Leim, leimgebende Substanz etc. Diese Körper gehen in F. über, wenn sie dem Stoffwechsel entzogen sind und Bakterien Zutritt erhalten, und die F. erfolgt dann ebenso wie die Gärung, aber unter Entwickelung übelriechender Gase. Niemals faulen Eiweißkörper, solange sie lebenden Organen angehören, wohl aber, wenn sie von diesen losgelöst sind, wie bei manchen Geschwüren, in der Gebärmutter, bei Brand etc., auch im Darm verlaufen Fäulnisprozesse. Die Fäulnisprodukte sind verschieden bei den verschiedenen fäulnisfähigen Stoffen und besonders je nach der die F. bedingenden Bakterienart; sie sind stets sehr zahlreich und wechseln auch je nach dem Stadium, in dem sich die F. befindet. Charakteristisch sind besonders Indol und Skatol, die den Geruch der Exkremente bedingen, Skatolkarbonsäure, Skatolessigsäure, Phenylpropionsäure, Phenylessigsäure, Phenyläthylamin, Oxyphenylpropionsäure, Oxyphenylessigsäure, Kresol, Phenol, Methylmarkoptan, Putrescin, Kadaverin, Schwefelwasserstoff. Daneben treten auch fette Säuren von der Essigsäure bis zur Kapronsäure, Bernsteinsäure, Leucin, Tyrosin etc. auf. Als Fäulniserreger fungieren ausschließlich gewisse Bakterien (s. Fäulnisbakterien), die sich ungemein schnell vermehren, solange noch fäulnisfähige Substanz vorhanden ist, nach Auszehrung derselben aber absterben oder in einen Ruhezustand übergehen; die Flüssigkeit klärt sich dann, und die Bakterien sammeln sich als Niederschlag auf dem Boden. Nicht selten kommt die F. auf einer gewissen Stufe der Zersetzung der organischen Substanz zum Stillstand, dann nämlich, wenn fäulniswidrige Substanzen, wie Phenol, Kresol, Indol, Skatol etc., in hinreichender Menge durch die F. selbst gebildet sind, um die Bakterien zu töten oder doch ihre Entwickelung zu hemmen. Vielfach sind Fäulnisprozesse auch von höher entwickelten Pilzen begleitet. An Körpern, die im Wasser faulen, wachsen die verschiedenen Arten der Saprolegniazeen als flockige oder fadige Massen. Auf den an der Luft faulenden Substanzen erscheinen dagegen die im gewöhnlichen Leben als Schimmel bezeichneten Pilze.

Fäulnisfähige Substanzen unterliegen nicht der F., wenn man die ihnen anhaftenden Bakterien tötet und den Zutritt neuer Bakterien verhindert. Alle Momente, die das Leben und Gedeihen der Bakterien fördern, begünstigen auch die F., umgekehrt kann die F. verlangsamt oder unterdrückt werden durch Mittel, welche die Vegetation und Vermehrung der Bakterien hemmen oder dieselben töten; daher sind alle Mittel, die das letztere bewirken, zugleich antiseptisch. Wenn Ausgüsse auf animalische oder vegetabilische Substanzen auf 100° erhitzt (sterilisiert) werden und darauf das Gefäß mit Baumwolle verstopft wird, so zeigen sich keine Bakterien, und es tritt auch keine F. ein. Wird in eine so behandelte Flüssigkeit ein Tropfen Wasser gebracht, in dem sich lebendige Bakterien befinden, so tritt in kurzer Zeit Trübung der Flüssigkeit ein zum Zeichen der Vermehrung der Bakterien, und die F. beginnt. Begünstigend auf die F. wirkt eine Temperatur von über 10°, am meisten eine solche von 30–40°, Gegenwart gewisser Nährsalze (Calcium- und Kaliumphosphat) und alkalische Reaktion des Gemisches. Schwach saure Reaktion verzögert die F., und stark saure hebt sie auf. Eigentliche F. erfolgt nur bei Abwesenheit von Sauerstoff; hat die Luft Zutritt, so findet F. nur im Innern der Masse statt, an der Oberfläche walten Oxydationsprozesse (Verwesung) vor. – Fäulnisprozesse sind für den Haushalt der Natur von höchster Bedeutung, indem sie die beständig sich anhäufenden abgestorbenen Pflanzen und Tiere beseitigen und deren elementare Bestandteile wieder in den allgemeinen Kreislauf des Stoffes zurückführen. Für den lebenden Organismus aber sind Fäulnisprozesse oft verderblich, und es entstehen tödliche Erkrankungen, wenn faulende Substanzen ins Blut gelangen. Faulende Stoffe bieten den Boden für die Entwickelung schädlicher (pathogener) Bakterien, und deshalb ist es dringend notwendig, die Wohnungen der Menschen und deren Umgebung von allen faulenden Substanzen frei zu halten, zumal auch die aus letztern sich entwickelnden Gase die Luft verderben und z. T. direkt giftig wirken. Die Technik macht von der F. bei der Flachsbereitung, der Papierfabrikation, der Gerberei und bei der Düngerbereitung Gebrauch.

Von den Alten, namentlich von Aristoteles, wurde die F. (Putrefaktion) als ein geheimnisvoller Prozeß angesehen, durch den nicht nur die bestehenden organischen Körper zersetzt, sondern auch neue, lebende erzeugt würden. Maden, Fliegen, ja selbst Bienen und Frösche sollten im faulenden Fleisch oder gärenden Schlamm entstehen, und von den Jatrochemikern und Ärzten des ausgehenden Mittelalters (Paracelsus, van Helmont u. a.) wurden diesem Prozeß noch andre Wunderwirkungen durch das Entstehen der natürlichen Mumie zugeschrieben, ja man hoffte mit Hilfe der F. in einer Phiole durch die sogen. spagyrische Kunst sogar einen kleinen lebenden Menschen (Homunkulus) zuwege zu bringen. Erst Franziskus Redi machte diesen Phantastereien ein Ende, indem er durch zahlreiche Versuche erwies, daß in fäulnisfähigen organischen Substanzen niemals Tiere entstehen, wenn man durch sorgfältigen Abschluß verhindert, daß Keime oder Eier von Tieren hinein gelangen können. Die Rolle, welche die Bakterien bei der F. spielen, hat zuerst Pasteur überzeugend nachgewiesen. Vgl. Hiller, Die Lehre von der F. (Berl. 1879); Flügge, Die Mikroorganismen (3. Aufl., Leipz. 1896, 2 Bde.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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