Elfenbeinschnitzerei

Elfenbeinschnitzerei

Elfenbeinschnitzerei ist die Kunst, in Elfenbein Ornamente und Figuren zu schneiden. Aus der ältern Steinzeit kennt man Nadeln und auf Mammutzähne geritzte Zeichnungen von Renntieren, die in Höhlen Frankreichs gefunden worden sind. Auch die Pfahlbauten haben Elfenbeinschnitzereien enthalten. Sicher datierbare Stücke kennen wir von den Ägyptern: allerlei Geräte, Griffe, kleine Büchsen, Nadeln und Toilettegegenstände, mit Flachrelief verzierte Platten zur Bekleidung von Gegenständen, auch kleine Statuetten u.a. Auch assyrische Elfenbeinschnitzereien kommen vor. Im Alten Testament wird die Verwendung von Elfenbein öfters erwähnt. Das berühmteste Werk semitischer E. war der Thron des Salomo (1. Könige 10, 18). Die Griechen kannten das Elfenbein lange, bevor sie mit dem Elefanten bekannt wurden; Homer erwähnt seine Verwendung zum Schmuck verschiedener Gegenstände häufig, sowohl als glänzend weißes Material wie auch gefärbt. Zu umfassender Verwendung gelangte das Elfenbein in der sogen. Chryselephantintechnik (Weiteres s. Goldelfenbeinkunst). Bei den Römern waren der kurulische Sessel, der Stab der Könige u.a. aus Elfenbein. Mit dem zunehmenden Luxus, der Ausdehnung des römischen Reiches und der reichern Zufuhr von Elfenbein (man kannte übrigens auch fossiles; Plin., 36, 29) nahm die E. an Ausdehnung zu. Flöten, Leiern etc. von Elfenbein waren etwas Gewöhnliches und vielfach noch mit Edelsteinen geziert. Die Furnierung von Möbeln, Schmucksachen mit Elfenbein war allgemein; auch schnitzte man Tischfüße und Verwandtes, sogar Bettstellen aus dem vollen Material. Neben Götterfiguren verfertigte man Reliefs und Reiterstatuen von Feldherren oder Kaisern in Elfenbein. In der Kaiserzeit findet die E. besondere Verwendung zum Schmuck der Diptychen (s. d.), welche die Konsuln beim Antritt des Amtes als besondere Auszeichnung zu verschenken pflegten. Die frühchristliche Kunst setzte die E. fort, indem sie in den Traditionen der altklassischen Kunst arbeitete. Man schmückte die heiligen Geräte: Hostienbüchsen, kleine Klappaltäre, Einbände für die heiligen Schriften etc., mit E. (s. Tafel »Christliche Altertümer II«, Fig 7, 14 u. 15). Im Zentrum der byzantinischen Kunst, zu Ravenna, trieb auch die E. ihre schönsten Blüten. der Bischofsstuhl des Maximianus (546–552) im Dom daselbst ist ein Meisterwerk dieser Technik.

Mit dem Vordringen christlicher Kultur über die Alpen gelangte die E. nach dem Norden. Am Hofe Karls d. Gr. blühte sie gleichfalls und war im 11. und 12. Jahrh. allgemein verbreitet. Kruzifixe, Haus- und Reisealtäre, Statuen, Bischofsstäbe und -Ringe, Prachtsättel, Schmuckkästchen und Toilettegerät sind vielfach erhalten. Bei Bucheinbänden pflegte man in die Mitte des mit Edelsteinen geschmückten Deckels eine geschnitzte Elfenbeinplatte einzulegen. Elefantenzähne bedeckte man über und über mit Schnitzerei, höhlte sie aus und benutzte sie als Jagd- oder Trinkhörner; hier sind orientalische Vorbilder nicht ohne Einfluß gewesen. Orientalische Elfenbeinschnitzereien aus dem neupersischen Reich kamen durch die Kreuzfahrer nach dem Abendland, vor allem als Behälter für Reliquien. Mächtig war der Aufschwung der Elfenbeinskulptur im 14. und 15. Jahrh. Während man sich früher mit Altärchen für Haus oder Reise begnügt hatte, setzte man jetzt ganze große Altarwerke aus einzelnen Platten, Figuren, Architekturteilen zusammen. In größerm Umfang als bisher ward Elfenbein zu Schmuckkästchen für Damen und ähnlichem verwendet. Dieser Bestimmung entsprechen die Darstellungen der Reliefs (Liebesszenen, Allegorien). Mittelalterliche Elfenbeinschnitzereien sind in allen Kulturländern gefertigt worden; namentlich aber verdankt man Frankreich überaus reizvolle Altärchen, die, aus der Spitze des Elefantenzahns geschnitten, in der Mitte eine stehende Madonna, in den zwei oder vier Flügeln biblische Darstellungen zeigen. Gegen Ende des 15. Jahrh. trat die E. besonders in Venedig hervor, wo in Verbindung mit dem Holz- und Elfenbeinmosaik geschnitzte Platten zu kleinen Kassetten verarbeitet wurden. Auch Sättel, Satteltaschen etc. mit durchbrochener E. wurden hier gefertigt. Mit der Entdeckung des Seewegs nach Indien und der dadurch vermehrten Zufuhr von Elfenbein begann eine neue Epoche in der Geschichte der E. Die Herstellung kirchlicher Geräte trat gegen die Profanarbeiten zurück. Im 16. Jahrh. kommen Elfenbeinschnitzereien nur vereinzelt vor, meist vortreffliche Arbeiten, als flache Reliefs für Brettsteine, Schachfiguren, Figuren und Reliefs allerlei Art.

Die eigentliche Blüte der E. fällt in das 17. Jahrh., wo sie Modesache wurde. Fürsten traten selbst als ausübende Künstler auf diesem Gebiet auf oder zogen geschickte Drechsler an ihren Hof. Letzterm Umstand verdanken die großen Sammlungen in Dresden, Gotha, Kassel, Schwerin, München u.a. O. ihre Entstehung. Die Produkte jener Zeit sind große Tafelaufsätze mit Figuren, Prachtgefäße aller Art, Schiffsmodelle, Reliefs, Figuren etc. Sehr beliebt sind die Prachtgefäße, die, der Form des Zahnes folgend, meist als zylindrische Humpen geformt sind. Die Darstellungen enthalten durchweg menschliche Figuren in voller Höhe des Gefäßes. Amazonen und Heroenschlachten, Musendarstellungen, bacchische Szenen, nackte Frauen- und Kindergestalten waren besonders beliebt. Diese Elfenbeinschnitzereien, in reich getriebenes und vergoldetes Silber meist in Augsburg gefaßt, dienten lediglich als Ziergeräte. Große Schüsseln mit Kannen, aus Holz oder Horn, mit skulptierten Elfenbeinplatten belegt, in Augsburg verfertigt, wurden in Jagdschlössern zur Ausschmückung der Büfette verwendet. Wohl das künstlerisch bedeutendste Stück jener Zeit ist der Münzschrank der Herzogin Elisabeth von Bayern, von Chr. Angermeier 1618–1624 gefertigt (in München). Das 18. Jahrh. kehrt wiederum zu Gebrauchsgeräten aus Elfenbein zurück. Stockgriffe, Tabaksraspeln und -Dosen, Griffe zu Messern und Gabeln überwiegen jetzt die Ziergeräte. Daneben artet die Kunst z. T. in Spielereien (Totenköpfe) aus, namentlich nach Erfindung der Passigdrehbank, welche die mannigfachsten Schweifungen, selbst viereckige Büchsen etc. herzustellen ermöglichte. Diese Drechselkunst hatte ihren Sitz in Nürnberg, wo die Familie Zick eine große Berühmtheit errang; einzelne Glieder der Familie hielten sich vorübergehend an den Höfen von Prag, Weimar, Halle, Wien auf und verbreiteten so ihre Kunst. Peter Zick, der Begründer der Familie, starb 1632. Sein Sohn Lorenz (gest. 1666) galt als der Geschickteste in seiner Kunst. Besonders berühmt waren seine »Conterfaitbüchsen« hohle, geschlossene Gefäße mit Inhalt, alles aus Einem Stück Elfenbein gedreht und geschnitten. Stephan Zick (gest. 1715) verfertigte namentlich »Dreifaltigkeitsringe«, Kunstaugen und Kunstohren, d.h. anatomisch zusammengesetzte, zerlegbare Augen und Ohren. Außer diesen Elfenbeinschnitzern sind noch Egidius Lobenigke in Dresden (16. Jahrh.), Melchior Barthel daselbst (1625–72), Balthasar Permoser in Florenz, Berlin und Dresden (1651–1732), Ludwig Lücke in Dresden (ca. 1703–80), Ignaz Elhafen (um 1690–1710 in Düsseldorf tätig) zu erwähnen. Von Simon Troger (gest. 1769) in München stammen die bekannten Bettlerfiguren, aber auch andre Arbeiten aus Holz und Elfenbein, von Leo Pronner in Nürnberg Kuriositäten aller Art (17. Jahrh.). Mit dem Rokoko ging auch die Kunst der E. zugrunde. Im ersten Drittel des 19. Jahrh. machte sich Leberecht Wilhelm Schulze in Meiningen durch mannigfache Kirchengeräte, Gefäße und Schnitzereien zu profanem Gebrauch bekannt. Mit dem Wiederaufleben der Kleinkunst hob sich auch die E. wieder; in Frankreich, in Deutschland und in der Schweiz hat man es zu ganz ansehnlichen Leistungen darin gebracht, die sich freilich zumeist auf verkleinerte Kopien hervorragender Bildwerke oder auf kleine Figuren und Gruppen beschränken. bei denen das Hauptgewicht auf eine virtuose Technik gelegt wird. Pendl in Wien, E. A. Schulz und Levin in Berlin sind die bedeutendsten unter den neuern Elfenbeinschnitzern. Einen großen Aufschwung nahm die E. in neuester Zeit in Belgien durch Einführung großer Elfenbeinmassen aus dem belgischen Kongostaat, die auch zur Wiederbelebung der Goldelfenbeinkunst ermutigte. Van der Stappen (s. d.), Dillens, Rombaux, Samuel, Geleyn, van Beurden, Weyns u.a. haben in Gruppen, Einzelfiguren und Büsten, z. T. in Naturgröße, ganz Hervorragendes geleistet und die E. wieder zur Plastik großen Stils zu erheben gesucht.

Die ältesten Elfenbeinschnitzereien des Orients sind oben erwähnt; Arbeiten, die nach dem Mittelalter entstanden sind, kommen äußerst selten vor. Mit E. versehene Waffen waren stets im Orient beliebt, auch Fächer etc. Gewisse Stämme Afrikas, besonders an der Loangoküste und in Angola, bearbeiten die Elefantenzähne äußerst geschickt und geschmackvoll, indem sie figürliche Darstellungen darauf schnitzen, die den Zahn wie ein Band umschlingen. Infolge der Beziehungen zu den Portugiesen sind diese Schnitzereien z. T. durch europäische Formen beeinflußt und zeigen einen ganz eigentümlichen Charakter. Zu hoher Blüte ist die E. im alten Königreich Benin gediehen. Neben den zahlreichen Bronzen wurden seit 1897 in der Hauptstadt auch gewaltige, über und über mit figürlichen Schnitzereien bedeckte Elefantenzähne gefunden. Aus dem Charakter der Darstellungen ergibt sich, daß diese Arbeiten dem 16.–18. Jahrh. angehören. (Vgl. Artikel und Tafel »Afrikanische Altertümer«, Fig. 19.) In Indien ist die E. seit uralten Zeiten heimisch; hier werden nicht bloß die Stoß-, sondern auch die Backenzähne der Elefanten zu Möbeln, Toilettegegenständen und Schmucksachen verwendet; man schnitzt Tiere aller Art, kleine Boote, Sänften, Früchte, Blumen, die z. T. gefärbt werden. Götterbilder und Figuren für Spiele sind sehr verbreitet. In Ostasien ist Japan weniger durch E. bekannt als durch eingelegte Arbeit in Elfenbein. Platten des kostbaren Materials, auch kurze Zylinder werden mit Goldlack bemalt und mit Perlmutter, Korallen, Steinen eingelegt. Dagegen liefert China seit alten Zeiten berühmte Schnitzereien. Bekannt sind die durchbrochenen Kugeln, deren oft mehr als ein Dutzend, bis 30, ineinander geschnitzt sind, und die ganzen Zähne, die über und über mit Schnitzereien, z. T. à jour, bedeckt, auf hölzernen Untersätzen einen beliebten Zimmerschmuck auch in Europa abgeben. Büchsen, Dosen, Tablette aller Art, mit eingeschnittenen oder frei gearbeiteten Verzierungen, Blumen, Insekten dekoriert, z. T. mit feinstem Farbengefühl bemalt, trifft man in den Kunstsammlungen öfters an. Die durchbrochen geschnitzten Körbchen und Dosen sind oft wahre Wunderwerke der Schnitzerei. Die Chinesen fertigen auch Flechtarbeiten aus sein gespaltenen Elfenbeinspänen und benutzen derartige Geflechte als Unterlage für flach geschnitzte und gefärbte Blumen zu Fächern. Vgl. Hörnes, Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa (Wien 1898); Woermann, Geschichte der Kunst, Bd. 1 (Leipz. 1900); Andree, Alte westafrikanische Elfenbeinschnitzwerke im herzoglichen Museum zu Braunschweig (im »Globus«, 1879); Heges, Alte Elfenbeinarbeiten aus Afrika in den Wiener Sammlungen (in den »Mitteilungen der Wiener Anthropologischen Gesellschaft«, 1899); Wyatt, Notices of sculpture in ivory (Lond. 1856); Westwood, Descriptive catalogue of fictil ivories in the South-Kensington Museum (das. 1876); Stuhlfauth, Die altchristliche Elfenbeinplastik (Freiburg 1896); »Beschreibung der Elfenbeinbildwerke in den königl. Museen zu Berlin« (45 Tafeln mit Text, Berl. 1902); Scherer, Elfenbeinplastik seit der Renaissance (Leipz. 1903); Molinier, Les Ivoires (Par. 1896); Cust, Ivory workers of the middle ages (Lond. 1902); Andés, Die Verarbeitung des Hornes, Elfenbeines etc. (Wien 1885).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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