Wasserkur

Wasserkur

Wasserkur (Hydrotherapie), die Methode, Krankheiten durch den Gebrauch des Wassers zu heilen. Da zumeist Wasser mit Temperaturgraden verwandt wird, die behufs Ausübung eines thermischen Reizes niedriger liegen als die Temperatur des menschlichen Körpers, und da höhere Temperaturen meist nur zur Vorbereitung kalter Anwendungen gegeben werden, so wird die W. oft als Kaltwasserkur bezeichnet.

Bereits die indische Literatur (Veden des Susrutus) und ägyptische Papyri kennen die W. Hippokrates scheint sie von ägyptischen Priestern gelernt und nach Griechenland gebracht zu haben. Griechische Ärzte, namentlich Asklepiades von Prusa, mit dem Beinamen »Psychrolutes« (Kaltbader), führten die W. in Rom ein. Mit dem Niedergang der antiken Kultur und dem Überhandnehmen mönchischer Askese, der auch die Reinlichkeit des Körpers als Luxus erschien, nahm die Beliebtheit der W. im Mittelalter wieder ab, obwohl in jedem Jahrhundert einzelne erleuchtete Köpfe mit Eifer auf ihre Nützlichkeit hinwiesen. Als Erneuerer der W. gilt der Londoner Arzt Sir John Floyer (1649–1734), dessen »Psychrolusia« (Kaltbaderei) von 1702 an in unzähligen Auflagen erschien und die englischen Ärzte John Currie und Wright, die irrtümlich als Neubegründer der alten Lehre angesehen werden, ermutigte, kalte Übergießungen bei hitzigen Fiebern anzuwenden. Den nachhaltigsten Erfolg aber hatte des schlesischen Arztes Johann Sigismund Hahn 1738 erschienenes »Traktat von der Krafft und Würkung des kalten Wassers«, denn aus ihm lernten nicht nur alle Ärzte, die sich seither mit W. beschäftigten, sondern auch die vielgenannten Laien Prießnitz und der Pfarrer Kneipp. Die wissenschaftliche Begründung der neuern Hydrotherapie stammt von Winternitz. Gegenwärtig zählt die W. zu den wichtigsten und meistgebrauchten Hilfsmitteln der Medizin. Alle guten Krankenhäuser sind mit den zu ihrer Ausübung nötigen Einrichtungen, teilweise mit sehr umfangreichen Baderäumen und Apparaten ausgestattet. An den meisten größern Universitäten bestehen umfangreiche Institute zur praktischen Ausübung und Erlernung und zur wissenschaftlichen Förderung der Wasserheilkunde, die nie einseitig, sondern nur in Verbindung mit der gesamten Heilkunde und mit andersartigen Heilverfahren betrieben werden soll und Erfolge erwarten darf.

Man wendet die W. an in Form von Abwaschungen und kalten Abreibungen. Bei der Abreibung wird der (stehende) Kranke in ein nasses Laken ganz eingehüllt und durch den Badediener abgerieben, indem dieser mit seinen Händen kräftig in der Richtung der Längsachse des Körpers auf und ab streicht. Bei der Abklatschung klatscht der Diener mit beiden Handflächen kräftig den Körper von oben bis unten ab. Beim Lakenbad wird der eingehüllte Patient während des Abreibens oder Abklatschens mit Wasser begossen. Bei den Bädern unterscheidet man Vollbäder, Halb-, Sitz- und Fußbäder. Bei den Vollbädern soll das Wasser möglichst den ganzen Körper umspülen, weshalb man auch im Badebassin untertaucht. Vollbäder in Quell- und Brunnenwasser sind meist sehr kühl und werden daher nur von sehr kräftigen Naturen ertragen. Flußwasser folgt langsam der Außentemperatur, ist also im Sommer temperiert. Leute, die im Winter sich Löcher in das Eis hauen lassen, um zu baden, setzen sich damit Gefahren ous ohne ersichtlichen Nutzen. Die Verwendung der kalten Bäder oder kalter Einwickelungen bei fieberhaften Krankheiten, besonders bei Unterleibstyphus, die durch E. Brand in Stettin 1861 in Deutschland ein geführt worden ist, hat sich außerordentlich bewährt-Bei dem Halb- oder Sitzbad (s. Halbbad) sitzt der Kranke bis zur Nabelhöhe im Wasser, während der obere Teil des Körpers, soweit möglich von ihm selbst, sonst von dem Badediener, mit dem Wasser benetzt und frottiert wird; auch verbindet man Halbbäder oft mit Begießungen u. dgl. und erzielt in der Regel einen Abfluß des Blutes vom Kopf und obern Teil des Rumpfes und damit weiterhin eine Regelung des Blutumlaufs überhaupt. Bei einigen Krankheiten des Rückenmarks und Gehirns sind Halbbäder oft von sehr guter Wirkung, während man sie bei Lungenleiden und bei sehr reizbaren, nervösen Personen zu meiden hat. Das Fußbad (s. d.), bei dem nur die Füße bis zum Knie in das Wasser tauchen, wirlt entweder als lokales Mittel, wie z. B. bei Schweißfüßen, oder es wirkt ableitend, wie z. B. bei Kopfschmerzen in Gestalt des kalten Fußbades von 10–15°. Die Dusche (s. d.) wird als Regendusche, als Tropfbad (Irrigation) oder auch in Gestalt eines auf einen bestimmten Körperteil geleiteten Wasserstrahls, der mit einer gewissen Gewalt auftrifft, angewendet; soz. B. setzt man ein chronisch krankes Kniegelenk täglich einer solchen Strahldusche aus und bezeichnet diese Begießung daher auch als Knieguß etc. Sehr bekannt ist die Einwickelung oder Einpackung (s. d.) und der Prießnitzsche Umschlag (s. Bähung).

Die Wirkungen der Wasseranwendung beruhen auf zahlreichen sich vereinenden und teilweise sehr verwickelten Vorgängen. Wärme und Kälte, bez. verschiedene Temperaturgrade wirken als verschiedene Reize um so stärker, je weiter sie sich von der (»indifferenten«) Temperatur des Körpers selbst (35–37°) entfernen, je größer die betroffene Hautfläche ist, je plötzlicher der Reiz einwirkt, in je reizbarerm Zustand sich die Haut befindet (größerer oder geringerer Blutreichtum). Durch Nervenerregung vermittelte Reflexe beeinflussen dabei zunächst das Herz und die Blutgefäße. Letztere werden durch starke Kälte oder Wärme vorübergehend gelähmt, dadurch erweitert und mit Blut überfüllt, durch mäßige Kältereize zuerst verengt (unter Erblassen), dann erweitert. Diese Wirkung ist eine teils nervös verursachte Fernwirkung, teils auch eine direkte Wirkung in der erwärmten oder gekühlten Haut. Die Herztätigkeit kann durch sorgfältige Bemessung der Reize verbessert, die Gesamtleistung des Herzens gekräftigt werden. Verstärkte Herztätigkeit und Zusammenziehung großer Blutgefäße, namentlich der innern Organe, erzeugt eine oft heilsame Steigerung des Blutdruckes in den Gefäßen. Durch allgemeine und namentlich durch lokale Wasseranwendung kann die Blutverteilung im Körper beeinflußt, also Blutfülle und Blutleere einzelner Teile erzielt werden.

Der Stoffwechsel wird durch Bäder angeregt, indem der Körper die ihm entzogene Wärme durch gesteigerte Verbrennung von Nährstoffen und Körpersubstanz (Fett) wieder ersetzt. Die durch kühle Wasserprozeduren erzeugte Wärmeentziehung ist besonders bei Fieber nützlich, jedoch wird das Fieber nur sehr vorübergehend herabgedrückt, und die Hauptwirkung beruht darauf, daß der Kreislauf Fiebernder durch Wasseranwendung angeregt, das häufig benommene Bewußtsein geweckt und die gesamte Nerventätigkeit und der Ablauf zahlreicher nervöser Reflexe begünstigt wird. Zusatz von reizenden Stoffen zum Wasser, wie von Salzen, steigert häufig die genannten Wirkungen. Ähnlich wirken mit den Bädern, Duschen und Einpackungen verbundene Abreibungen, Abklatschungen u. dgl. Sehr wesentlich ist die Einwirkung der Wasseranwendungen auf die Atmung, die durch kühles Wasser vertieft wird, hierauf beruht die heilsame Wirkung von kühlen Umschlägen, Duschen und Bädern bei Bronchitis, Lungenentzündungen und ähnlichen Krankheiten. Auch die Tätigkeit von Magen, Darm und Nieren kann durch die W., wenn auch in geringerm Grade, beeinflußt werden, durch Anregung der Schweißbildung in warmen oder heißen Bädern und Einpackungen kann das bei Nierenerkrankungen im Körper angesammelte Wasser ausgeschieden werden, durch Schweißerregung und durch Erzeugung lokaler Blutfülle (z. B. mittels warmer Umschläge) können abgelagerte Entzündungsprodukte zur Aufsaugung gebracht werden. Die Muskelkraft wird durch geeignete kühle Wasserprozeduren vorübergehend deutlich gehoben, ebenso wird ein bei allgemeiner Nervenschwäche sehr heilsames Gefühl größerer Frische und Spannkraft erzeugt. Lähmungen bei Nerven- und Rückenmarksleiden werden teils durch warme Bäder, teils durch vorsichtig abgestufte Anwendung kühler Temperaturen günstig beeinflußt. Sehr wichtig zur Erklärung vieler Wirkungen der W. ist die Anregung der Hauttätigkeit durch Reinigung und reichlichere Durchblutung.

Eine richtige Anwendung der W. ist nur möglich unter genauer Berücksichtigung der Individualität des Kranken. Die nervösen Reflexwirkungen, auf denen ein großer Teil der von der W. angestrebten Erfolge beruht, sind bei verschiedenen Personen je nach ihrer Reizbarkeit sehr verschieden leicht zu erzielen; außerdem sind für sehr schwächliche Patienten nur vorsichtige Eingriffe am Platze. Der beste Maßstab für die Richtigkeit einer Maßnahme ist das Eintreten der sogen. Reaktion, der mit Wärmegefühl und Rötung verbundenen Erweiterung der Hautgefäße nach Kälteanwendungen. Tritt sie und das gleichzeitige Erfrischungsgefühl nicht ein, so muß die Wasseranwendung in andrer Form erfolgen oder es müssen hautreizende Maßnahmen oder eine Erwärmung der Haut durch märmestauende Prozeduren, z. B. durch Einpackungen, warme Bäder etc., vorausgehen.

Vgl. Floyer, The ancient Psychrolusia revived, or an essay to prove cold bathing both safe and useful (Lond. 1702); Küchenmeister, Die therapeutische Anwendung des kalten Wassers bei fieberhaften Krankheiten (Berl. 1869); Winternitz, Die Hydrotherapie auf physiologischer und klinischer Grundlage (Wien 1877–80, 2 Bde.; Bd. 1 in 2. Aufl. 1890); Winternitz und Strasser, Hydrotherapie (das. 1898); Hösslin im »Handbuch der Therapie« von Penzoldt und Stintzing (Bd. 5, 3. Aufl., Jena 1902); Matthes, Lehrbuch der klinischen Hydrotherapie (2. Aufl., Jena 1903); Glax, Lehrbuch der Balneotherapie (Stuttg. 1897–1900, 2 Bde.); Buxbaum, Lehrbuch der Hydrotherapie (2. Aufl., Leipz. 1903) und Technik der Wasseranwendungen (das. 1901); Schweinburg, Handbuch der allgemeinen und speziellen Hydrotherapie (Wiesbad. 1904); Baruch, Hydrotherapie (deutsch von Lewin, Berl. 1904); Davidsohn, Technik der Hydrotherapie (das. 1906).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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