Beaconsfield [2]

Beaconsfield [2]

Beaconsfield (spr. béckens- oder bīkensfīld), Benjamin Disraeli, Earl of, brit. Staatsmann und Schriftsteller, geb. 21. Dez. 1804 in London, gest. 19. April 1881, Sohn des Schriftstellers Isaak Disraeli (s. d.), stammte aus einer spanisch-jüdischen Familie, die am Ende des 15. Jahrh. nach Venedig geflüchtet und 1748 nach England übergesiedelt war. Isaak Disraeli sagte sich 1817 vom Judentum los und ließ auch seinen Sohn taufen. 1821 Lehrling einer Advokatenfirma geworden, widmete sich B. gleichzeitig der literarischen Tätigkeit und spielte durch Erscheinung und Witz eine Rolle in der Aristokratie Londons. 1826 erschien der erste Band seines Romans »Vivian Grey«, der wegen seiner getreuen Schilderungen der Sitten der höhern Kreise Aufsehen erregte. Seine spätern Romane: »Popanilla«, »The wondrous tale of Dav. Alroy«, »The young duke« (1831), »Contarini Fleming« (1832), »Henrietta Temple« (1836) und »Venetia« (1837), erhielten orientalische Färbung unter dem Eindruck seiner Reise nach dem Süden Europas und dem Orient. Seit 1832 bewarb er sich anfangs mit radikaler Unterstützung um einen Sitz im Unterhaus, doch mehrere Jahre ohne Erfolg. Während der Wahlkämpfe entfernte er sich allmählich von den Whigs, nachdem er in seinem politischen Glaubensbekenntnis »What is he°« (1833) noch eine Mittelstellung eingenommen hatte. 1835 aber verteidigte er die Anschauungen der Tories in der Schrift »Vindication of the English constitution« (1835) und ward 1837 zu Maidstone in das Unterhaus gewählt. Um dieselbe Zeit heiratete er eine ältere, reiche Witwe, eine Mrs. Lewis.

B. bildete mit literarischen und politischen Freunden eine Gruppe, die man als das »junge England« bezeichnete. Die Anschauungen dieses Kreises brachten seine Romane: »Coningsby, or the new generation« (1844), »Sybil, or the two nations« (1845) und »Tancred, or the new crusade« (1847), zum Ausdruck: die herrschende Whigaristokratie könne nicht als wahre Vertretung des Landes gelten; die notwendige Regeneration Englands könne vielmehr nur ausgehen von der erneuerten Torypartei, die sich der Interessen des Volkes annehmen und mit einem starken, populären Königtum verbinden müsse. Die neuen Romane Beaconsfields wurden von der Kritik sehr scharf beurteilt; ihr äußerer Erfolg war aber wegen der packenden Schilderungen der englischen Gesellschaft glänzend. Disraelis wachsende literarische Berühmtheit brachte ihn an die Spitze einer Gruppe, mit der er seit 1843 Peel, dem Führer der Konservativen, Opposition machte. B. und sein Freund Lord George Bentinck, dessen Biographie er 1852 schrieb, wurden die Führer des Teiles der konservativen Partei, der, entschieden schutzzöllnerisch gesinnt, sich von der Regierung lossagte. Für die Aufhebung der Kornzölle (Mai 1846) rächten sie sich, indem sie in Verbindung mit den Whigs die irische Zwangsbill Peels verwarfen und diesen zum Rücktritt nötigten. Bei den Wahlen von 1847 wurde B. für die Grafschaft Buckingham gewählt, die er bis zu seiner Berufung ins Oberhaus vertrat. Nach dem Tode Lord Bentincks (1848) erkannten die Tories B. als Führer ihrec Partei im Unterhaus an. Nun gewann diese immer mehr die Oberhand, und als 20. Febr. 1852 das Ministerium Russell zum Rücktritt gezwungen wurde, erhielt B. im Ministerium Derby das Schatzkanzleramt.

Seine ministerielle Tätigkeit begann mit Mißerfolgen. Bereits die Neuwahlen von 1852 zeigten, daß die Regierung auf keine feste Majorität rechnen könne. Als nun B. eine Budgetvorlage einbrachte, welche die ländliche Bevölkerung durch Erleichterung ihrer Steuerlast begünstigte, wurde sie von Gladstone mit solchem Erfolg bekämpft, daß das Ministerium gestürzt wurde (17. Dez. 1852). Zwar gelang es der Torypartei im Januar 1855 infolge des Krimkrieges, das Aberdeensche Kabinett zu Falle zu bringen und 1857 einen Beschluß gegen die chinesische Politik der Whigregierung durchzusetzen; aber 1855 vermochte Derby kein Toryministerium zustande zu bringen, und 1857 löste Palmerston das Parlament auf und errang bei den Neuwahlen den Sieg. Erst 14. Febr. 1858 wurde Palmerston gestürzt und B. in Derbys zweitem Kabinett abermals Schatzkanzler. Einer seiner wichtigsten Schritte war die Übertragung der Verwaltung Indiens von der Ostindischen Kompagnie auf die Krone; außerdem bewog er Derby, die Zulassung der Juden zum Parlament zu bewilligen. Die wichtigste politische Frage in jener Zeit war aber die Ausdehnung des Wahlrechts zum Parlament. B. brachte 24. März 1859 eine Reformbill ein; doch 31. März wurde ein Gegenantrag Lord Russells angenommen. Wegen der italienischen Verwickelungen wünschte die Königin einen Ministerwechsel zu vermeiden und löste das Parlament auf; aber bei den Neuwahlen unterlag die Toryregierung und trat 17. Juni zurück. B. richtete fortan seine Angriffe besonders gegen die auswärtige Politik Palmerstons, in kontinentalen Angelegenheiten nicht einzuschreiten. Indes die Mehrheit des englischen Volkes war mit dieser Nichteinmischung einverstanden, und die Anträge Beaconsfields über auswärtige Angelegenheiten hatten daher keinen Erfolg. Dagegen wurde die liberale Partei in der Frage der Reformbill 18. Juni 1866 im Unterhaus geschlagen, worauf Derby und B. zum drittenmal in den Besitz der Gewalt kamen. B. brachte nun 1867 ein Wahlgesetz durch, das unleugbar radikaler war als das Gladstones, indem es in den Städten das household suffrage (Wahlrecht aller, die eine eigne Wohnung innehatten) mit wenigen Beschränkungen durchführte und das ländliche Wahlrecht erweiterte. In der äußern Politik zeigte sich B., der nach Derbys Rücktritt im Februar 1868 die Leitung des Ministeriums übernahm, tatkräftig (s. Abessinien, S. 35). Der Entstaatlichung der irischen Kirche widersetzte er sich; doch wurde 30. April 1868 die sie fordernde Resolution Gladstones im Unterhaus angenommen; und nachdem auch die nach dem neuen Wahlgesetz vorgenommenen Wahlen zugunsten der Liberalen ausgefallen waren, mußte B. 3. Dez. 1868 zurücktreten.

Im neuen Parlament bekämpfte B. die innere und die auswärtige Politik Gladstones, die auf der Pontuskonferenz 1871 und in der Alabamafrage empfindliche Niederlagen erlitt. Infolgedessen zersetzte sich die liberale Partei, und als die Regierung 1873 eine neue Konzession an die ultramontanen Iren vorschlug, siegte B., der 1870 in einem neuen Roman: »Lothair«, die Vorzüge der englischen Staatskirche gegenüber dem Katholizismus entwickelt hatte. Gladstone reichte darauf 11. März 1873 seine Entlassung ein; aber B. lehnte, weil er über keine Mehrheit im Unterhaus verfügte, die Neubildung des Kabinetts ab, so daß die Liberalen die Geschäfte fortführten. Aber als Gladstone im Januar 1874 das Parlament auflöste, gewannen die Konservativen die Mehrheit; Gladstone trat 17. Febr. zurück, und B. ward abermals an die Spitze der Regierung gestellt. Gewaltige Erfolge trug seine auswärtige Politik davon. Die Einverleibung der Fidschiinseln im September 1874, der Ankauf der Suezkanalaktien im November 1875, die Reise des Prinzen von Wales nach Indien im Oktober 1875, die Annahme des Titels »Kaiserin von Indien« durch die Königin im Mai 1876, endlich die Reorganisation des Heeres stellten das durch die Whigregierung gefährdete Ansehen Großbritanniens wieder her. Die Königin ernannte ihn 12. Aug. 1876 zum Grafen von B. (den Titel hatte schon seit 1868 seine 1872 gestorbene Gemahlin geführt), und B. trat ins Oberhaus ein. 1877 und 1878 verteidigte er angesichts der Orientwirren entschieden die Interessen Englands und ließ sich auch durch Widerspruch innerhalb des Ministeriums selbst nicht irre machen; Rußland mußte den Frieden von Santo Stefano, der ihm die Herrschaft über den Orient gesichert hätte, dem Berliner Kongreß vorlegen, an dem Lord B persönlich teilnahm. Dort wurden die russischen Forderungen erheblich abgeschwächt, und durch den Vertrag vom 4. Juni 1878 überließ der Sultan Cypern an England. Die Königin verlieh dem Lord B. den Hosenbandorden, die City von London das Ehrenbürgerrecht; die Angriffe Gladstones gegen seine Politik wies das Unterhaus 2. Aug. mit großer Mehrheit zurück. Auch der Krieg mit Afghanistan schloß im Mai 1879 günstig, und die Niederlagen im Sulukrieg wurden durch den Sieg von Ulindu (3. Juli 1879) ausgeglichen. Durch diese Erfolge sicher gemacht, entschloß sich B. im März 1880 zur Auflösung des Parlaments in der Erwartung, durch einen günstigen Wahlerfolg seine Herrschaft auf weitere sieben Jahre zu befestigen. Allein Gladstones geschickte Agitation und die Stimmung weiter Kreise, die nach der opfervollen auswärtigen Politik der Tories einige friedlichere Jahre wünschten, führten eine Niederlage der Regierung herbei, und B. mußte im April 1880 seine Entlassung einreichen. Abermals in die Opposition gedrängt, bewährte er sich noch im Sommer 1880 als Gegner des Ministeriums Gladstone und überraschte die Welt durch den politischen Roman: »Endymion« (1880). Noch im Beginn der Session von 1881 nahm er an den Parlamentsverhandlungen teil, erkrankte aber nach wenigen Wochen und starb bald darauf. Das Parlament beschloß, ihm ein Denkmal in der Westminsterabtei zu errichten.

Über Lord Beaconsfields Charakter ist es auch heute noch schwer, entscheidend zu urteilen; noch immer gilt er seinen Anhängern als einer der größten Staatsmänner Englands seit dem jüngern Pitt, seinen Gegnern als ein politischer Achselträger und vom Glück begünstigter Scharlatan. In der Wahl seiner Mittel hat er oft gewechselt; seine Ziele sind seit den Tagen des »jungen England« in der Hauptsache dieselben geblieben. Als Redner zeichnete sich B. durch Schlagfertigkeit, Schärfe und sprühenden Witz aus; in der parlamentarischen Debatte war er Meister, obwohl in der kunstvollen Beredsamkeit Gladstone ihm überlegen sein mochte. Seine Reden erschienen gesammelt in »Church and Queen, five speeches delivered 1860–1864« (1865), »Constitutional reform, five speeches, 1859–1865« (1866), »Parliamentary reform, a series of speeches 1848–1866« (2. Aufl. 1867), »Speeches on the conservative policy of the last 30 years« (1870), »Selected speeches of the late Right Hon. the Earl of B.«, herausgegeben von Kebbel (1882, 2 Bde.). Ausgaben seiner Briefe in »Home letters, written by the late Earl of B. 1830–1831« (1885) und »Correspondence with his sister« (1886); die letzten Gesamtausgaben seiner Romane erschienen 1881 in 11 und in 10 Bänden. Vgl. Mill, Disraeli the author, orator and statesman (1863); »Benjamin Disraeli, Earl of B., a political biography« (1877); Hitchman, The public life of the Earl of B. (3. Aufl. 1885); Brandes, Lord B. (Berl. 1879); Cucheval-Clarigny, Lord B. et son temps (Par. 1880); Clay den, England under Lord B. (1880); Ewald, The Right Hon. Benjamin Disraeli, Earl of B. and his times (1882, 2 Bde.); Thompson, Public opinion and Lord B. (1886, 2 Bde.); Froude, The earl of B. (3. Aufl. 1890); Sir W. Fraser, Disraeli and his day (1891); Gorst, The earl of B. (1900).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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