Rückenmarkskrankheiten

Rückenmarkskrankheiten

Rückenmarkskrankheiten sind im Vergleich mit den Affektionen der meisten andern Organe selten. Als angeborne Fehler kommen am häufigsten vor: Spaltbildungen der Wirbelsäule (Rückgratsspalte, Spina bifida), Erweiterungen oder Doppelbildung des Zentralkanals, Verkümmerung (Atrophie) der nervösen Substanz. Von den im Verlaufe des Lebens sich entwickelnden R. ist die häufigste die Rückenmarksschwindsucht (s. d.), die sich als eine Systemerkrankung des Rückenmarks darstellt, indem sich die krankhafte Veränderung auf ein Gebiet funktionell zusammengehöriger Nervenelemente verteilt, statt sich wahllos über die Substanz des Organs zu verbreiten. Das letztere ist der Fall bei der häufigen multiplen Sklerose (disseminierte Herdsklerose, Sklerosis cerebrospinalis multiplex, Sclérose en plaques). Dabei finden sich im Gehirn und Rückenmark regellos zerstreut kleinere und größere Erkrankungsherde, innerhalb deren die Markscheiden der Nervenfasern zugrunde gegangen sind und das Stützgewebe vermehrt ist. Dementsprechend ist auch das Krankheitsbild sehr wechselvoll. Eine Erkrankung des motorischen Systems ist die amyotrophische Lateralsklerose, bei der die die willkürliche Bewegung beherrschenden Nervenbahnen von der Hirnrinde durch die Pyramiden und die Vorder-, bez. Seitenstränge entarten, ebenso die Vorderhornzellen des Rückenmarks und die von hier ausgehenden peripheren Nerven.

Da die Zellen der grauen Substanz des Rückenmarks einen wichtigen Einfluß auf die Ernährung der mit ihnen verbundenen Gewebsteile ausüben, so verfallen bei der amyotrophischen Lateralsklerose die gelähmten Muskeln einer schweren Atrophie. Wenn dagegen, wie bei manchen Fällen der spastischen Spinalparalyse, nur die durch die Pyramiden verlaufenden zentralen Abschnitte der motorischen Nervenbahn erkranken, während die Vorderhornzellen des Rückenmarks und die von hier ausgehenden peripheren Nervenfasern gesund bleiben, so bleibt eine stärkere Atrophie aus; dagegen ist letztere Krankheit durch starke Steigerung der Reflexe und große Steifheit der Muskulatur gekennzeichnet, so daß zu der Schwäche der Glieder sich Spannungsgefühl und zunehmende Bewegungsbehinderung gesellt. Bei der spinalen progressiven Muskelatrophie verfallen die Vorderhornzellen des Rückenmarks und die peripheren motorischen Nerven einer langsam fortschreitenden Entartung, während die Pyramidenbahnen völlig normal bleiben. Dementsprechend verfallen die zugehörigen Muskelgruppen einem fortschreitenden Schwund und zuletzt völliger Schwäche und Lähmung. Häufig verbindet sich diese Krankheit mit der Bulbärparalyse, die auf völlig entsprechendem Nervenzellenschwund im verlängerten Mark beruht. Eine umschriebene Erkrankung von häufig akutem Verlauf befällt die graue Substanz der Vorderhörner und deren Nervenzellen bei der akuten und chronischen Poliomyelitis, die, am häufigsten bei Kindern, meist als Entzündung auf infektiöser Grundlage anzusehen ist. Gleichzeitige Erkrankungen mehrerer Systeme kommen ebenfalls vor. Ferner können weitausgedehnte, nach oben und nach unten (auf- und absteigende), Entartungen eintreten, wenn das Rückenmark an einer umschriebenen Stelle geschädigt ist, so daß der Zusammenhang weiter Gebiete von Nervenfasern mit ihren Nervenzellen aufgehoben ist. Solche Verletzungen werden, abgesehen von Wunden durch Druck, erzeugt bei Wirbelerkrankungen und bei bösartigen Geschwülsten in oder neben dem Rückenmark. Am häufigsten ist eine schwere umschriebene Beschädigung des Rückenmarks Folge der Rückenmarksentzündung (Myelitis). Diese Entzündung kann der Breite nach das Rückenmark in bestimmter Höhe befallen und dann das je nach der Höhe des Krankheitssitzes verschiedene Bild der Querlähmung herbeiführen, oder als disseminierte Myelitis in kleinern Herden große Abschnitte des Rückenmarks durchsetzen. Außer der Lähmung beider Beine finden sich gesteigerte Haut- u. Sehnenreflexe, Empfindungslähmung in manchen Hautgebieten, Blasenstörungen (anfangs Harnverhaltung, dann Harnträufeln), Mastdarmstörungen. Die Empfindungslähmung der Haut und der Wegfall nervöser, die Ernährung beeinflussender Funktionen erzeugt oft schwere Geschwüre durch Aufliegen mit nachfolgendem Brand oder Eiterfieber; die durch Blasenlähmung verursachten Blasenkatarrhe sind eine fernere, oft tödlich wirkende Komplikation. Es gibt akute und chronische, oft über Jahre sich erstreckende Fälle von Rückenmarksentzündung. Ihre Ursachen sind die verschiedensten Infektionskrankheiten, bez. die bei denselben gebildeten, dem Nervensystem gefährlichen Bakteriengifte.

Wie das Gehirn, so kann auch das Rückenmark von syphilitischen Erkrankungen befallen werden, die sich entweder als verbreitete Entzündungen oder als umschriebene Neubildungsmassen (Gumma) darstellen; häufiger allerdings sind die Rückenmarkshäute Sitz der syphilitischen Erkrankung. Entsprechend dem verschiedenen Sitz und der verschiedenen Ausbreitung tritt die Rückenmarkssyphilis in äußerst verschiedenen Formen auf. Zur Behandlung der R. dienen vor allem die Hilfsmittel der Elektrotherapie, der Wasserkuren; ferner, wenn Wirbelsäulenerkrankungen vorliegen, die Geradehaltung derselben durch Stützapparate, die Entfernung von Fremdkörpern und Neubildungen. Relativ selten kann man durch antisyphilitische Maßnahmen Heilerfolge erzielen, am ehesten bei der Syphilis des Rückenmarks, weniger bei den Nachkrankheiten. Geeignete Gymnastik, namentlich die Übungstherapie (s. d.), sind oft wertvoll. Sehr wichtig ist sorgsame Krankenpflege zur Verhütung von Aufliegen und von Blasenkatarrhen (Entleerung des Harns durch Katheter). Atrophien und Kontrakturen werden durch Massage bekämpft. Sehr häufig wird man sich lediglich auf eine symptomatische Behandlung, Linderung von Schmerzen etc. zu beschränken haben. Vgl. Leyden, Klinik der R. (Berl. 1874–1876, 2 Bde.); Erb, Krankheiten des Rückenmarks (2. Aufl., Leipz. 1878); Marie, Leçons sur les maladies de la moelle (Par. 1902; deutsch von Weiß, Wien 1894); Leyden und Goldscheider, Die Erkrankungen des Rückenmarks (2. Aufl., Wien 1903–05, 3 Tle.); Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten (4. Aufl., Berl. 1905, 2 Bde.); Stintzing, Behandlung der Erkrankungen des Rückenmarks und seiner Häute (3. Aufl., Jena 1903); Schmaus, Vorlesungen über die pathologische Anatomie des Rückenmarks (Wiesbad. 1901).

Bei Tieren kommen R. ebenfalls nicht gerade häufig vor. Entzündungen werden meist durch Verletzungen hervorgerufen, sekundär können sie sich im Gefolge mancher Infektionskrankheiten, z. B. der Druse der Pferde und der Staupe der Hunde entwickeln. Zweifelhaft geworden ist die Beteiligung des Rückenmarks bei der Beschälseuche, indem hier hauptsächlich die peripheren Nerven zu erkranken scheinen. Dagegen ist eine spezifische chronische Rückenmarkskrankheit die Traberkrankheit der Schafe. Auch akute infektiöse primäre Entzündungen des Rückenmarks sind beobachtet, so 1904 in einem Kavallerieregiment in Danzig eine mit ansteckendem Katarrh der Luftwege beginnende und in totale Lähmung des Lendenmarks ausgehende Seuche und viele Fälle von R. bei Pferden in Bayern, in Frankreich etc. Endlich ist die Bornasche Krankheit der Pferde ihren Erscheinungen nach eine Rückenmarkskrankheit, obwohl sich anatomische Veränderungen am Rückenmark nicht ermitteln lassen.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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