- Neulateinische Dichter
Neulateinische Dichter, Bezeichnung für diejenigen Dichter, die seit der Wiedererweckung des klassischen Altertums in Sprache und Form der lateinischen Klassiker gedichtet haben. Während das frühere Mittelalter noch eine Reihe lateinischer Dichtungen hervorgebracht hat, die sich antiker Sprache und Form anzunähern suchten (s. Lateinische Literatur des Mittelalters), entfernte man sich im weitern Verlauf desselben, wie überhaupt im Gebrauch der lateinischen Sprache, so auch in der lateinischen Dichtung immer weiter von den Vorbildern. Zu den ersten, die wieder nach antiken Mustern zu dichten versuchten, gehört Dante; jedoch als Vater der neulateinischen Dichtung wie des ganzen sogen. Humanismus ist Francesco Petrarca (s. d.) zu betrachten, der sich mit seinen lateinischen Dichtungen 1341 die Dichterkrönung auf dem Kapitol erwarb. Sein Beispiel fand eifrigste Nachahmung in immer weitern Kreisen, zumal seit immer mehr klassische Schriftsteller aus der Vergessenheit hervorgezogen wurden. In allen Stilgattungen suchte man es den Alten nachzutun; »poetae« wurde überhaupt Bezeichnung für Anhänger der humanistischen Bewegung. Wie Petrarca selbst seine »Rime« geringer schätzte als seine lateinischen Dichtungen, so galt in Italien fast bis Ende des 15. Jahrh. das Dichten in der Volkssprache mehr für spielende Beschäftigung, nicht als Leiter zum Ruhm. Auf alle Länder, die sich der humanistischen Richtung anschlossen, übertrug sich mit dieser auch der Eifer für lateinische Versifikation, die auch in den Schuleinrichtungen der Reformation und der Jesuiten als alumna eloquentiae eine hervorragende Stelle einnahm und sich bis Ausgang des 17. Jahrh., ja zum Teil noch darüber neben der nationalen Dichtung im Ansehen behauptete. Erstaunlich ist in diesen Zeiten die Verbreitung und Fertigkeit, Sprache und Formen der antiken Dichter zu handhaben. Manche dieser Dichtungen haben lange für antik gegolten, wie umgekehrt antike Gedichte für Erzeugnisse dieser Zeit. Begreiflich ist äußere Gewandtheit bei der überwiegenden Masse die Hauptsache; doch fehlt es unter der großen Zahl neulateinischer Dichter der verschiedenen Lander keineswegs an solchen, die auch inhaltlich den Dichternamen mit Recht verdienen. Von den Italienern sind vornehmlich zu nennen: Cristoforo Landino (1424–1504), Angelo Poliziano (1454–94), Jacopo Sannazaro (1458–1530), Pietro Bembo (1470–1547), Jacopo Sadoleto (1477–1547), Girolamo Vida (1480–1566), Girolamo Fracastoro (1483–1533), Andrea Navagero (Naugerius, 1483–1529), Baldassare Castiglione (Castilioneus, 1478–1529), denen der in Italien gebildete Ungar Joannes v. Chezmicze, genannt Janus Pannonius (1434–72), anzureihen ist. – Unter den Deutschen zeigt gleich der erste deutsche (1487) gekrönte Dichter, Konrad Celtis (1459–1508), höhere poetische Begabung, ebenso Ulrich v. Hutten (1517 gekrönt), der ebenso fruchtbare wie elegante Eobanus Hessus (1488–1540), Euricius Cordus (1486–1535), der Graubündner Simon Lemnius (ca. 1510–50), Georg Sabinus (Schüler, 1508–60), Melanchthons Schwiegersohn; ferner Jakob Micyllus (Molsheym, 1503–58), sein Schüler Peter Lotichius Secundus (1528–60), der in allen Gattungen der lateinischen Poesie gleich gewandte Nikodemus Frischlin (1547–90), Paul Schede, genannt Melissus (1539–1602). Aus dem 17. Jahrh., das trotz der Stürme des Dreißigjährigen Krieges lateinische Dichtung eifrig pflegte, verdienen vor allen Erwähnung der gelehrte Kaspar v. Bardt (1587–1658) und der Jesuit Jakob Balde (1604–68). Selbst Männer wie Martin Opitz und Paul Fleming haben neben der deutschen sich der lateinischen Form bedient. Noch Leibniz hat sich auf dem Felde der lateinischen Poesie den Lorbeer verdient. – In Frankreich überwiegt bei sehr beträchtlicher Zahl lateinischer Dichter des 16. und 17. Jahrh. die formale Gewandtheit in der Nachahmung der verschiedenen Stilgattungen; hervorragende Vertreter dieser Richtung sind: Jean Dorat (Auratus, 1504–88), Mare Antoine Muret (1526–85), Florent Chrestien (Florens Christianus, 1541–96), Julius Cäsar Scaliger (1484–1558) und sein Sohn Joseph Justus Scaliger (1540–1609), René Rapin (1621–87), Pierre Daniel Huet (1630–1721). – Unter den Briten leisteten Bedeutendes George Buchanan (1506–82), der berühmte Epigrammatist John Owen (1560–1622) und John Barclay (1582–1621). – Eine vereinzelte Erscheinung in seinem Vaterland ist der »polnische Horaz«, Matth. Kasimir Sarbiewski (Sarbievius, 1595–1640). – Während die Niederlande bis über die Mitte des 16. Jahrh. hinaus nur einen bedeutenden Dichter in dem Juristen Jan Everard (Johannes Secundus, 1511–36) aufzuweisen haben, entfaltete sich seit Begründung der Universität Leiden 1575, besonders unter der Einwirkung von J. J. Scaliger, in der lateinischen Poesie um so regerer Wetteifer, je weniger die gering entwickelte Landessprache dem durch das Studium der Alten geweckten und ausgebildeten dichterischen Trieb die Möglichkeit zur Betätigung bot. Die Blütezeit bezeichnen die Namen Janus Dousa (van der Does) der Jüngere (1571–97), Dominicus Baudius (1561–1613), Peter Scriverius (Schryver, 1576–1660), Hugo Grotius (1583–1645), Janus Rutgers (1589–1625), Daniel Heinsius (1580–1655) und sein Sohn Nikolaus Heinsius (1620–81). Diesen reihen sich an Hadrian Roland (1676–1718), Janus Brukhusius (van Broekhuyzen, 1649–1707), David van Hoogstraten (1658–1724), Johannes Schrader (1722–83). Vgl. Aug. Erhard, Geschichte des Wiederaufblühens wissenschaftlicher Bildung, vornehmlich in Deutschland, bis zum Anfang der Reformation (Magdeb. 1827–32, 3 Bde.); G. Voigt, Die Wiederbelebung des klassischen Altertums (3. Aufl., Berl. 1893, 2 Bde.); Bursian, Geschichte der klassischen Philologie in Deutschland (Münch. 1883); Lucian Müller, Geschichte der klassischen Philologie in den Niederlanden (Leipz. 1869); P. Hofmann-Peerlkamp, De vita, doctrina et facultate Nederlandorum, qui carmina latina composuerunt (zuletzt Leid. 1842); Bonaventura, La poesia neo-latina in Italia dal sec. XIV al presente (Città di Castello 1900); Friedemann, Bibliotheca poetarum latinorum aetatis recentioris (Leipz. 1840, 2 Bde.); »Lateinische Literaturdenkmäler des 15. und 16. Jahrhunderts« (hrsg. von Herrmann u. Szamatólski, bis jetzt 16 Bde., Berl. 1891–1902).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.