Arbeiterwohnungen

Arbeiterwohnungen

Arbeiterwohnungen (hierzu Tafeln »Arbeiterwohnhäuser I-III«). Mit der zunehmenden Dichtigkeit der Bevölkerung in Industriebezirken und großen Städten mit wachsender Bevölkerung steigen die Wohnungspreise rascher als das Einkommen fast sämtlicher Klassen, und die Ausgaben für die Wohnung machen daher einen immer größern Prozentsatz der ganzen Konsumtion aus. Dieses trifft die einzelnen Klassen um so schwerer, je niedriger ihr Einkommen ist, also am schwersten die untern, insbes. die lohnarbeitenden Klassen. Diese müssen nicht nur einen heute vielfach für sie bereits nicht mehr erschwinglichen Teil ihres Einkommens auf die Wohnung verwenden, sondern die Wohnungen, die sie für stets steigende Preise bekommen, sind außerdem vielfach in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung unzureichend, und schließlich kommt es zeitweise so weit, daß sie überhaupt keine Wohnungen zu für sie erschwingbaren Preisen bekommen können, so daß an und für sich zahlungsfähige Familien ohne die öffentliche Intervention der Obdachlosigkeit anheimfallen. Diese Unzulänglichkeit der Wohnungen der untern Klassen in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung besteht vielfach auch auf dem platten Lande, während die Wohnungsfrage in ihrer allgemeinen Form eine wesentlich städtische Frage ist. Die Ursache dieser Erscheinung ist in erster Linie in dem natürlichen Steigen der städtischen Grundrente infolge der wachsenden Nachfrage nach Wohnungen zu suchen, z. T. findet aber auch eine künstliche Steigerung der Bodenwertung durch die gewerbsmäßige Spekulation statt, welch letzterer oft durch ungeeignete Bebauungspläne und Bauordnungen geradezu Vorschub geleistet wird. Dazu kommt die Abneigung des privaten Bauunternehmers, sich mit dem Bau von A. zu befassen, weil die Verwaltung und Vermietung der betreffenden Häuser mit allerlei Unzuträglichkeiten verbunden ist, ferner die Notwendigkeit, in nicht zu großer Entfernung von der Arbeitsstätte zu wolmen, wodurch die Ansiedelung in den billigern Vororten erschwert wird.

Die Maßnahmen zur Beseitigung, bez. zur Herabminderung des Wohnungsnotstandes bezwecken 1) die Beseitigung mangelhafter Wohnungen und 2) den Bau und die Förderung des Baues von Wohnungen für die minderbemittelten Bevölkerungsklassen. Die Mangelhaftigkeit der Wohnungen ist bedingt durch die Art und Weise des Baues oder durch die Art und Weise der Benutzung, insbes. durch Überfüllung. Die Verhinderung der baulichen Mängel ist Aufgabe der Baupolizei (s. d.) und wird bewirkt durch die Bauordnung, die Verhinderung von Unzuträglichkeiten durch die Benutzung geschieht durch die Wohnungsinspektion (s. d.) und die Beseitigung der durch dieselben aufgedeckten Mängel (Sanierung).

Die an den Bau kleiner Wohnungen zu stellenden Anforderungen sind je nach den klimatischen und sonstigen örtlichen Verhältnissen, den Gewohnheiten der Bevölkerung etc. verschieden. Im allgemeinen ist vom gesundheitlichen und sittlichen Standpunkt aus wünschenswert, daß eine hinreichende Anzahl genügend großer Räume vorhanden ist, um den erwachsenen Kindern verschiedenen Geschlechts getrennte Schlafräume bieten zu können. Diese Forderung wird in dem kleinern Familienhause auf billigem Terrain in der Regel erfüllt werden können, ohne den Preis der Wohnung ins Unerschwingliche zu steigern. In den großen Städten mit ihrem teuern Baulande bildet die dreiräumige Wohnung bereits das äußerste Maß des durch den gemeinnützigen Wohnungsbau angestrebten, und vielfach muß man sich bereits auf zwei Räume beschränken. Bei allen Anlagen, die mehr als eine Wohnung in sich vereinigen, sollte eine möglichst weitgehende Trennung der einzelnen Wohnungen, namentlich auch in Bezug auf die Benutzung der Abortanlagen durchgeführt werden. Die idealste Befriedigung des Wohnbedürfnisses gewährt das frei stehende Einfamilienhaus, bez. das durch Aneinanderlegung zweier solcher entstehende Doppelhaus; diese Bauweise gestaltet sich aber zugleich auch als die teuerste und ist nur noch durchführbar, wo der Preis des Grund und Bodens nicht ins Gewicht fällt (Tafel I, Fig. 1–9). Nächstdem ist die horizontale Nebeneinandergruppierung mehrerer Wohnungen zu Reihenhäusern (Tafel I, Fig. 7 u. 10) der Übereinanderlegung der Wohnungen in mehreren Stockwerken vorzuziehen. In Städten mit höhern Bodenpreisen läßt sich indessen unter den bestehenden Verhältnissen der Etagenbau nicht vermeiden, und es erwächst daraus die Aufgabe, denselben so zu gestalten, daß billigen Anforderungen in sanitärer Beziehung dabei Rechnung getragen wird. Dahin gehört die Anlage genügend breiter Straßen und Höfe, um Licht und Luft ausreichenden Zutritt zu gewähren, richtige Gestaltung der Entwässerungsanlagen, Anordnung möglichst zahlreicher Treppenhäuser, um, mit Rücksicht auf die Feuersgefahr, die Anzahl der Familien, die einen Ausgang benutzen, nicht zu groß werden zu lassen, Fürsorge für Reinlichkeit, wohin auch die Anordnung von gemeinschaftlichen Baderäumen zu rechnen ist etc. Gerade die letzten Jahre haben unter andern in Berlin, Hamburg, München, Leipzig, Nürnberg und an andern Orten eine Reihe von Musteranlagen entstehen lassen, die diesen Anforderungen vollauf entsprechen und die den Beweis erbracht haben, daß auch mit dem System des Etagenbaues auf dem Gebiete des Arbeiterwohnungsbaues durchaus befriedigende Ergebnisse erzielt werden können (Tafel I, Fig. 11, und Tafel II u. III). In neuerer Zeit tritt hierzu noch das gerechtfertigte Bestreben, den Ansiedelungen der Arbeiter auch äußerlich den Anstrich des Behaglichen und das Auge Erfreuenden zu geben. Bei der Anlage der mehr ländlichen Ansiedelungen werden die geradlinigen, sich rechtwinkelig kreuzenden Straßen vermieden; durch Anlage von freien Plätzen wird das Bild belebt. An Stelle der Schablone tritt eine größere Mannigfaltigkeit in der architektonischen Gestaltung der Einzelbauten (Tafel I, Fig. 1, 3, 4 u. 12). Auch das große städtische Massenmiethaus verliert durch architektonische Gliederung den Anblick des Kasernenhaften (Tafel II, Fig. 4).

Das System, bei dem der Arbeiter Eigentümer des von ihm bewohnten Einfamilienhauses wird, verspricht Erfolg nur innerhalb eng gezogener Grenzen: billige Bodenpreise, wie sie in ländlichen und hier und da auch in kleinstädtischen Verhältnissen noch vorhanden sind; eine hochgelohnte Arbeiterbevölkerung bei durchaus stabilen Arbeitsverhältnissen. Unter andersartigen Verhältnissen bleiben auf die Dauer Fehlschläge nicht aus: die anfangs von Arbeitern erworbenen Häuser gehen oft schon nach kürzester Frist in andre Hände über, die Spekulation bemächtigt sich der Grundstücke, und die Wohnungen werden dem Zwecke, dem sie dienen sollten, entfremdet.

An dem Bau kleiner Wohnungen mit dem ausgesprochenen Zweck, die Wohnungsverhältnisse der unbemittelten Klassen zu verbessern, sind im wesentlichen vier Faktoren beteiligt: 1) die Arbeitgeber; 2) öffentliche Verbände, insbes. die kommunalen Verbände; 3) gemeinnützige Gesellschaften, Stiftungen etc. und endlich 4) die auf der Grundlage der Selbsthilfe basierten Organisationen der Wohnungsbedürftigen selbst. – Unter den Arbeitgebern haben in erster Linie die staatlichen Großbetriebe auf diesem Gebiete Namhaftes in der einen oder andern Form geleistet. So hat unter anderm die preußische Bergverwaltung bereits in einer sehr frühen Periode ein eigenartiges System der Seßhaftmachung der Arbeiter auf eignem Grund und Boden in großem Umfange und mit dauerndem Erfolg zur Durchführung gebracht. Wohnungen zur mietweisen Überlassung an ihre Arbeiter und Unterbeamten haben in großem Maßstabe die preußische, bayrische, sächsische und württembergische Staatseisenbahnverwaltung, für die Arbeiter der militärfiskalischen Betriebe das preußische Kriegsministerium, für ländliche Arbeiter die preußische Domänen- und Forstverwaltung gebaut. Von den Reichsbehörden sind die Marineverwaltung und die Post- und Telegraphenverwaltung in der gleichen Richtung tätig gewesen. Wie der Staat, haben einzelne Gemeinden in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber für ihre Unterbeamten und Arbeiter Wohnungen hergestellt. In der Privatindustrie finden wir ebenfalls neben einzelnen Beispielen einer Wohnungsfürsorge, die darauf hinzielt, einzelnen, dauernd in dem Betriebe tätigen Angestellten und Arbeitern den Erwerb eines kleinen Anwesens zu ermöglichen (Mansfelder Kupferschiefer bauende Gewerkschaft, Villeroy u. Boch in Mettlach a. S., D. Peters u. Komp. in Neviges bei Elberfeld, Fried. Krupp in Essen, Cornelius Heyl in Worms u.a.), vorwiegend das System der mietweisen Überlassung der Wohnungen an die Arbeiter. Musterleistungen letzterer Art sind die Schöpfungen von Fried. Krupp in Essen, der Badischen Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen, der Farbwerke vorm. Meister, Lucius u. Brüning in Höchst a. M., der Vereinigten Maschinenfabrik Augsburg und Maschinenbaugesellschaft Nürnberg, der Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vorm. Schuckert u. Komp. in Nürnberg.

Von den Bestrebungen der Gemeinden, in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber an der Verbesserung der Wohnungsverhältnisse mitzuwirken, ist derjenige Zweig der kommunalen Wohnungspolitik zu unterscheiden, der die Lösung der Wohnungsfrage im Interesse der gesamten minderbemittelten Einwohnerschaft durch Herstellung von Wohnungen in eigner Regie der Gemeinde anstrebt. In dieser Beziehung sind die Städte Freiburg i. Br., Ulm, Straßburg i. E. bahnbrechend vorgegangen, und in neuerer Zeit haben neben einigen bescheideneren Versuchen namentlich Magdeburg, und vor allem Düsseldorf mit erheblichern Mitteln diesen Weg beschritten. Auch einzelne Kreisverbände sind in gleicher Weise tätig gewesen. Was in dieser letztern Beziehung bisher in Deutschland geschehen ist, wird indessen weit in den Schatten gestellt durch das Vorgehen einer Reihe englischer Kommunalverwaltungen, in erster Linie des Londoner Grafschaftsrats, der in allergrößtem Umfange neben seinen umfangreichen Sanierungsarbeiten den Bau von Wohnungen in eigner Regie unternommen hat, ferner auch der Gemeinden Glasgow, Liverpool, Birmingham u.a.

Vgl. »Die Wohnungsnot der ärmern Klassen in deutschen Großstädten und Vorschläge zu deren Abhilfe« (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 30, 31 u. 33, Leipz. 1886–87) und »Neue Untersuchungen über die Wohnungsfrage in Deutschland und im Auslande« (ebenda, Bd. 94–97, das. 1901); »Die Verbesserung der Wohnungen« (»Schriften der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen«, Berl. 1892); Albrecht und Messel, Das Arbeiterwohnhaus (das. 1896); Weyl, Handbuch der Hygiene, Bd. 4 (Jena 1896); »Aufgaben von Gemeinde und Staat in der Wohnungsfrage« (hrsg. von einer Kommission des Verbandes Arbeiterwohl, Köln 1897); »Die Erleichterung der Beschaffung der Geldmittel für die gemeinnützige Bautätigkeit« (Schriften der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen, Berl. 1900); Liebrecht, Reichshilfe für Errichtung kleiner Wohnungen (Götting. 1900); Nußbaum, Bau und Einrichtung von Kleinwohnungen (Schriften der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen, Berl. 1901); Albrecht, Wohnung und Unterkunft (im »Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland«, das. 1901); Fuchs, Wohnungsfrage, im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« (2. Aufl., Jena 1901).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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