Harnruhr

Harnruhr

Harnruhr (Diabetes), zwei Krankheitsformen, deren hauptsächlichstes Merkmal in einer Vermehrung der Harnmenge (Polyurie) besteht. Bei der einen Form, der Zuckerharnruhr (Diabetes mellitus), ist die tägliche Menge des Harns (1500 g) meistens auf das Doppelte oder Dreifache vermehrt, vor allem aber ist für diese Form der H. charakteristisch der im normalen Harn fehlende Gehalt an gärungsfähigem Traubenzucker. Diesem Zuckergehalt entsprechend zeigt der Harn ein hohes spezifisches Gewicht von 1,020–1,050 und darüber. Über den Zuckernachweis s. Harn, S. 818. Bei der zweiten Form der H., dem Diabetes insipidus (geschmacklose, d. h. nicht süß schmeckende, daher »einfache H.«), steigt die Harnmenge oft auf 10–15 Lit. täglich, der Harn ist fast farblos, hat ein spezifisches Gewicht von etwa 1,005 und ist zucker- und eiweißfrei. Eine der einfachen H. ähnliche Steigerung der Urinmenge geht manchmal der Zuckerharnruhr voraus, doch scheint es sich hierbei nicht um einen Übergang der ersten Krankheit in die letztere zu handeln, vielmehr sind beide völlig verschiedene, ihrer Ursache nach noch wenig bekannte Prozesse.

Die Glykosurie (Meliturie), d. h. Zuckerausscheidung im Harn, ist das auffallendste, aber nicht das einzige Symptom der Zuckerharnruhr; auch bedeutet nicht jede Glykosurie das Vorhandensein einer Zuckerharnruhr. Da die Nieren für Zucker durchlässig werden, wenn der Zuckergehalt des Blutes (normal bis zu 0,1 Proz.) bis zu 0,2–0,5 Proz. ansteigt, so erfolgt häufig Glykosurie, wenn durch übermäßige Zufuhr leicht aufsaugbaren Zuckers diese Grenze überschritten wird (alimentäre G.). Dasselbe tritt ein, wenn die Stellen des Körpers, die normalerweise den Zucker in Form von Glykogen aufzustapeln und nur nach Bedarf abzugeben haben, vor allem die Leber, dieser Fähigkeit beraubt werden, wie es namentlich bei Vergiftungen (durch Morphium, Strychnin, Curare, Amylnitrit etc.) und Schädigungen des Nervensystems vorkommt (Schlaganfall, Verletzung am Boden der vierten Hirnkammer, durch die Claude Bernard bei Tieren künstlich Zuckerharnen erzeugen konnte). Werden allein die Nieren selbst geschädigt, so daß sie für den normalen Zuckergehalt des Harns durchlässig werden, so tritt ebenfalls Glykosurie ein; dies ist der Fall bei der Vergiftung mit Phloridzin. Vielleicht entsteht bei manchen Fällen von Zuckerharnruhr des Menschen die Krankheit in ähnlicher Weise. Meistens aber ist hier ein Unvermögen der Körperzellen, den ihnen dargebotenen Zucker zu verbrauchen, neben einer Störung der Glykogenaufstapelung im Spiele. Worauf beide Störungen beruhen, ist völlig unbekannt.

Die Zuckerharnruhr ist häufiger bei Männern als bei Frauen, am häufigsten tritt sie im 5. Jahrzehnt des Lebens auf, kommt aber auch bei Kindern vor. Bei jungen Leuten verläuft sie meistens rasch und schwer, bei ältern nicht selten als relativ harmlose Störung. In 8–20 Proz. der Fälle läßt sich Erblichkeit der Krankheit nachweisen, in andern Fällen ist sie mit einer in der Familie vorhandenen Anlage zur Gicht oder zu Fettleibigkeit in Zusammenhang zu bringen, oder es verbindet sich bei demselben Individuum Gicht, bez. Fettleibigkeit mit Zuckerharnruhr. Schädigungen des Nervensystems begünstigen ebenfalls die Entstehung des Leidens, daher ist es verhältnismäßig häufig in Berufsarten, die mit aufreibender geistiger Arbeit verbunden sind. Schwere Erkrankungen an Zuckerharnruhr finden sich häufig bei Erkrankung (Krebs, Entzündung etc.) der Bauchspeicheldrüse. Seit der berühmten Entdeckung von Merings und Minkowskis, daß bei Hunden experimentelle Entfernung dieser Drüse zu tödlicher Zuckerharnruhr führt, hat man in diesem Organ die Ursache des Leidens gesucht, indem man sich z. B. vorstellte, daß die Bauchspeicheldrüse auf dem Blutweg ein zur Zuckerzersetzung notwendiges Ferment (durch innere Sekretion) an den Körper abgebe. Doch reicht diese Annahme nur für einen Teil der Krankheitsfälle aus, in vielen andern findet man die Drüse völlig normal.

Man unterscheidet eine leichte, eine schwere und eine mittelschwere Form der Zuckerharnruhr. Bei ersterer hört die Glykosurie auf, wenn eine kohlehydratfreie, nur Eiweiß und Fett enthaltende Diät eingehalten wird. Bei der schweren Form wird auch bei strenger Eiweißfettdiät Zucker ausgeschieden, ein Zeichen, daß der Körper auch den Zuckeranteil, der normalerweise bei der Eiweißzersetzung entsteht, nicht verbrauchen kann, was bei der leichten Form noch möglich ist. Übergangsformen bilden die mittelschwere Form. – Das Leiden beginnt oft unmerklich; oft verrät es sich zuerst durch Losewerden der Zähne, durch Heißhunger, da der Patient durch die unverwendbaren Kohlehydrate nicht gesättigt wird. Trotz starkem Appetit nimmt das Körpergewicht ab. Sehr bald fällt auch die starke Harnvermehrung auf. Die geringe Widerstandsfähigkeit des Körpers äußert sich oft in allgemeiner Furunkelbildung auf der Haut und durch das häufige Vorkommen von Lungenschwindsucht. Der Zuckergehalt des Harns kann von weniger als 1 Proz. bis über 10 Proz. schwanken, die Tagesmenge des ausgeschiedenen Traubenzuckers bei einer Harnmenge von mehreren (bis 10 oder 12) Litern wenige Gramme bis 500, ja 1000 g betragen. Bei schwereren Fällen, namentlich bei strenger Eiweißfettdiät, finden sich im Harn wie im Blut reichlichere Mengen von Aceton (Acetonurie, bez. Acetonämie), Acetessigsäure u. β-Oxybuttersäure. Der erstgenannte Stoff verleiht, in die ausgeatmete Luft übergehend, derselben einen eigentümlichen obstartigen Geruch. Viele Fälle, besonders die leichten im höhern Alter und die mit Fettleibigkeit einhergehenden, stellen eine bei zweckmäßigem Verhalten verhältnismäßig harmlose Affektion dar, andre werden erst nach jahrelangem, nicht selten durch Nachlässe unterbrochenem Verlauf verderblich; schwere Fälle führen unter starker Abmagerung und mannigfachen Komplikationen zum Tode. Häufig ist dabei das diabetische Koma (coma diabeticum), ein narkosenähnlicher, mit Bewußtseinsstörung und auffallend vertiefter Atmung verlaufender, immer tödlicher Zustand, der als eine Vergiftung des Körpers durch die abnormen, obengenannten Säuren gedeutet wird.

Die Behandlung ist eine vorwiegend diätetische. Eine Diät, die an Kohlehydraten arm oder von solchen frei ist (Eiweißfettdiät), vermag nicht nur die Zuckerausscheidung herabzusetzen oder zu beseitigen, sondern führt auch häufig nach einiger Zeit zur Hebung des Zuckerzersetzungsvermögens. Wie streng die Vermeidung der Kohlehydratzufuhr durchzuführen ist, vermag nur der Arzt für jeden Fall anzugeben. Bei schweren Fällen scheint eine strenge Eiweißfettdiät durch Begünstigung des Komas gefährlich werden zu können. Im allgemeinen sind zu bevorzugen als Nahrungsmittel: alle Fleisch- und Fischsorten, Eier, grüne Gemüse; besonders wertvoll sind leicht verdauliche Fette. Mehl- und zuckerhaltige Stoffe, wie Brot, Backwerk, Mehlspeisen, Kartoffeln, Kompott etc., sind zu vermeiden, desgleichen Bier und süße Weine, Rotwein ist in mäßigen Mengen erlaubt. Das schwer zu entbehrende Brot kann durch kohlehydratarme, reichlich Weizenkleber enthaltende Backwerke, wie Aleuronat- und Roboratgebäcke, ersetzt werden. Trinkkuren in Karlsbad, Neuenahr, Vichy etc. wirken nur unterstützend für die damit verbundene sachgemäße Ernährungs- und Lebensweise. Erholung und Schonung wirkt namentlich bei den auf nervöser Grundlage beruhenden Fällen äußerst heilsam. Arzneimittel kommen nur für die Behandlung einzelner Symptome in Betracht. Der Gebrauch von kohlensauren Alkalien scheint durch Neutralisierung der Acetessigsäure und Oxybuttersäure dem Koma vorzubeugen, jedoch kann dasselbe, wenn bereits ausgebrochen, hierdurch nicht beeinflußt werden.

2) Die geschmacklose H. (Diabetes insipidus) besteht gleichfalls in überreichlicher Harnausscheidung und maßlosem Durst, aber der Harn enthält weder Zucker noch andre fremdartige Bestandteile. Da auch diese Form der H. nicht an die Erkrankung eines bestimmten Organs gebunden ist, so bestehen über ihr Wesen nur Vermutungen; sie kommt bei Männern öfter vor als bei Frauen, in frühem Lebensalter öfter als im höhern. Bei Tieren konnte durch Verletzungen des Kleinhirns und des verlängerten Markes eine ähnliche Krankheit erzeugt werden. Durch Haut und Lungen scheiden die Kranken nur sehr wenig Wasser aus. Dabei trinken sie ganz bedeutende Mengen. Bei vielen Kranken bleiben das Allgemeinbefinden und der Zustand ihrer Kräfte lange Zeit hindurch ungestört, bei andern treten Verdauungsbeschwerden, Abmagerung und Schwächegefühl auf. Verlauf und Dauer der Krankheit sind verschieden. Bald entwickelt sie sich allmählich, bald plötzlich, häufig kommen vorübergehende Besserungen vor. Gewöhnlich dauert die Krankheit viele Jahre an, ohne das Leben zu bedrohen. Vollständige und dauernde Heilung der geschmacklosen H. ist selten. Unter den vielfachen, meist erfolglos angewendeten Mitteln gegen die geschmacklose H. stehen das Opium und der Baldrian in erster Linie. In vielen Fällen suchen die Kranken überhaupt keine ärztliche Hilfe nach. Vgl. A. Bernard, Vorlesungen über Diabetes (deutsch, Berl. 1878); Frerichs, Über den Diabetes (das. 1884); Ebstein, Die Zuckerharnruhr (Wiesbad. 1887) und Über die Lebensweise der Zuckerkranken (2. Aufl., das. 1898); Seegen, Der Diabetes mellitus (3. Aufl., Berl. 1893); v. Noorden, Die Zuckerkrankheit und ihre Behandlung (3. Aufl., das. 1901); Naunyn, Der Diabetes mellitus (Wien 1898); Gerhardt, Der Diabetes insipidus (das. 1899); Leo, Über Wesen und Ursache der Zuckerkrankheit (Berl. 1900); Grube, Die diätetische und hygienische Behandlung der Zuckerkrankheit (2. Aufl., Bonn 1901).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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