Gicht [2]

Gicht [2]

Gicht (Arthritis vera, A. urica, A. guttosa), eine in einer fehlerhaften Anlage (Konstitution) beruhende, durch schmerzhafte Ablagerung von harnsauren Salzen in den Gelenken und durch Nierenerkrankungen charakterisierte Krankheit. Man hat die G., da bei ihr die Harnsäure eine freilich noch nicht hinreichend geklärte Rolle spielt, mit andern krankhaften Störungen des Harnsäurestoffwechsels unter dem Ausdruck »harnsaure (oder uratische) Diathese« zusammengefaßt. Im Volksmund werden fälschlich zahlreiche, nicht hierher gehörige (z. B. rheumatische) Gelenkerkrankungen als G. bezeichnet. Das eigentliche Wesen der G. ist noch ganz unklar, man kann nur sagen, daß es sich um eine allgemeine Erkrankung des Protoplasmas, also der lebenden Zellsubstanz selbst, handelt, die ja auch bei den verwandten, ebenfalls auf Anlage beruhenden Stoffwechsel- (oder auch Konstitutions-) Krankheiten der Zuckerharnruhr und Fettsucht vorzuliegen scheint. Die gichtische Anlage wird durch zahlreiche Momente begünstigt, die man daher vielfach beschuldigte, »Ursachen« der G. zu sein, die aber für sich kaum ausreichen, G. zu erzeugen. Die G. ist bei Männern weit häufiger als bei Frauen. Begünstigt wird ihre Entstehung nach allgemeiner Meinung durch üppiges und untätiges Leben; jedoch hindert dies nicht, daß viele Menschen an G. erkranken, die höchst mäßig und verständig leben. Reichlicher Biergenuß scheint für die G. nicht von Belang zu sein; in München ist trotz starken Biergenusses die G. selten. Überhaupt scheint die Häufigkeit der G. in verschiedenen Ländern eine sehr verschiedene zu sein; besonders häufig scheint sie in England aufzutreten. Auch in einigen Teilen Norddeutschlands und Schwedens ist lie G. sehr verbreitet. Sie scheint hier aber nicht durch klimatische Einflüsse, sondern durch häufigeres Vorkommen einer angebornen Disposition in der ansässigen Bevölkerung begünstigt zu werden. Chronische Bleivergiftung scheint der Entwickelung der G. ebenfalls förderlich zu sein, ist aber nicht imstande, die Krankheit hervorzurufen; ähnlich wirken manche Infektionskrankheiten. Die ersten Erscheinungen der G. treten meist erst zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf, selten ist sie bei Kindern. Die G. ist vererbbar. Sie wird zwar in vielen Fällen erworben unter noch nicht hinlänglich bekannten Bedingungen, jedoch läßt sich in ca. der Hälfte der Fälle bei den Eltern oder, mit Übergehung dieser, bei den Großeltern G. nachweisen.

Man unterscheidet die zwei Hauptformen der Gelenkgicht und der Nierengicht. Die erstere ist bei weitem die häufigere und besteht in einer Ablagerung von harnsaurem Natron in den Knorpeln, Bändern der Gelenke, begleitet von heftigen Entzündungserscheinungen. Am häufigsten wird hiervon das Großzehengelenk betroffen (Podagra, Fußgicht, Zipperlein), seltener die Hand- und Fingergelenke (Chiragra), noch seltener das Knie- (Gonagra) oder andre Gelenke. Die Ablagerung und Entzündung erfolgt meist in Anfällen. Vor einem solchen Anfall fühlen sich die Kranken häufig abgespannt; ihr Schlaf ist unruhig, ihre Verdauung gestört, der Appetit vermindert; sie klagen über Beengung, schwitzen stark und entleeren einen spärlichen, konzentrierten Harn. Der Anfall selbst stellt sich trotzdem unerwartet und plötzlich, meist nachts mit heftigen bohrenden und brennenden Schmerzen in dem ersten Gelenk der großen Zehe ein. Die Haut über dem Gelenk rötet sich, und letzteres schwillt an. Häufig besteht Fieber. Gegen Morgen macht sich ein starker Nachlaß der Schmerzen bemerkbar. In der nächsten Nacht erfolgt ein neuer, gleich heftiger oder etwas schwächerer Anfall, und so wechseln erträgliche Tage mit schlechten Nächten ab, bis etwa nach Ablauf einer Woche der Kranke von seinen Schmerzen befreit ist. Der Patient fühlt sich nun oft wohler als vor dem ersten Anfall. Nach Monaten oder erst nach Jahren tritt gewöhnlich die Krankheit von neuem in der gleichen Art hervor und kann in relativ harmloser Form und mit seltenen Anfällen weiter fortbestehen, in andern folgen die Anfälle mit der Zeit schneller auseinander; die Zwischenzeiten sind nicht mehr beschwerdefrei, und so geht mit der Zeit die akute G. in die chronische G. über. Bei dieser werden allmählich immer mehr Gelenke befallen und dieselben mehr und mehr durch massenhafte Ablagerung von harnsauren Salzen geschädigt und verunstaltet. Die mit diesen Salzen durchtränkten Gewebe neigen zum Absterben und zur Erweichung, und die erweichten Massen brechen nicht selten zur Haut durch, wodurch die Gichtgeschwüre entstehen, die Eiter und harnsaure Salze zusammen als mörtelartige Massen entleeren. Auch unter der Haut, in der Umgebung der Gelenke und besonders an den Ohrknorpeln finden sich Ablagerungen von harnsauren Salzen, sogen. Gichtknoten (tophi). Die Gelenke bleiben schließlich fast anhaltend schmerzhaft, schwer beweglich und mißgestaltet, so daß die Kranken im Gebrauch ihrer Glieder bald mehr, bald weniger erheblich beeinträchtigt werden.

Nun treten noch zahlreiche Krankheitserscheinungen seitens der innern Organe auf, es entsteht die viszerale G. Schwere Magenstörungen mit völligem Fehlen des Appetits, chronische Leberentzündung, Entartung und Schwäche des Herzmuskels, allgemeine Arteriosklerose und vor allem das Auftreten einer Schrumpfniere sind die unter vielen andern hauptsächlichsten Erscheinungen der viszeralen G. Das Nervensystem beteiligt sich vor allem durch Nervenentzündung (Neuritis), Neuralgien und deprimierter Stimmung an dem Krankheitsbild. Die Prognose der G. ist eine sehr unsichere: in vielen Fällen erreicht der Befallene, verhältnismäßig wenig gestört durch seltene Anfälle, ein hohes Alter, in andern führen die gichtigen Veränderungen lebenswichtiger Organe zu frühem Tode; daher ist das Verhalten dieser im einzelnen Fall ausschlaggebend.

Bei der seltenen (reinen oder primären) Nierengicht ist die gichtige, von Harnsäureablagerungen begleitete Nierenschrumpfung die erste und hauptsächlichste, manchmal auch die einzige Erscheinung der Krankheit. – Als Grundlage der der G. zugrunde liegenden Protoplasmaerkrankung hat man eine mangelhafte Beschaffenheit der Zellkerne bezeichnet und auf einen gesteigerten Zerfall derselben, eine vermehrte Bildung von Harnsäure und den mit dieser naheverwandten Alloxurkörpern (Nukleïnkörpern) bezogen. Wie weit dies richtig ist, muß künftiger Forschung vorbehalten bleiben. Die auffallende Rolle der Harnsäure führte dazu, der Ausscheidung dieses Stoffes im Harn besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Im Gegensatz zu ältern Behauptungen steht nun fest, daß vor dem Gichtanfall eine mehrtägige Harnsäurestauung, d. h. verminderte Ausfuhr derselben im Harn, während des Anfalls aber eine vermehrte Ausfuhr stattfindet.

Die Behandlung der G. besteht vorzugsweise in Regelung der Lebensweise. Sowohl der zur G. Beanlagte, als der an G. Leidende soll mäßig leben, alle den Körper und Geist schwächenden Einflüsse vermeiden. Vielfach bewährt sich eine mäßige, nur in manchen Fällen und bei sachgemäßer Durchführung eine völlige Einschränkung des Fleischgenusses. Von vielen Ärzten wird dem Pflanzeneiweiß (Aleuronat, Hülsenfrüchte) der Vorzug vor tierischem Eiweiß gegeben; zellkernreiche Fleischsorten, wie Hirn, Bries, Nieren, sind zu meiden. Als Getränk empfehlen sich leicht alkalische oder alkalisch-salinische Mineralwässer oder Kochsalzwässer (Kissingen, Karlsbad); Alkohol ist zu vermeiden. Bewährt ist reichlicher Genuß von gewissen Obstsorten (Kirschen, Erdbeeren); ferner ausgiebige körperliche Bewegung. Vorsichtige Anwendung erheischt das bei der Behandlung des Gichtanfalls übliche Colchicum, das Extrakt der Herbstzeitlose. Es ist die wirksame Substanz der zahllosen Geheimmittel gegen die G. Im übrigen ist Ruhe, Wärme, Darreichung von Salizylpräparaten, allenfalls von Morphium, das gegen den Anfall Wirksamste. Vgl. Pagenstecher, G. und Rheumatismus (4. Aufl., Leipz. 1903); Ebstein, Die Natur und Behandlung der G. (Wiesb. 1882) und Das Regimen bei der G. (das. 1885); Pfeiffer, Die G. und ihre erfolgreiche Behandlung (2. Aufl., das. 1891); Duckworth, Die G. (deutsch von Dippe, Leipz. 1894); Delpeuch, La goutte et le rheumatisme (Par. 1900); Minkowski, Die G. (Wien 1903). – G. kommt auch beim Geflügel, nicht aber bei den Haussäugetieren vor.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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