Gerichtsstand

Gerichtsstand

Gerichtsstand (lat. Forum) heißt das Rechtsverhältnis, vermöge dessen eine Person berechtigt und verpflichtet ist, als Beklagter oder Beschuldigter vor einem bestimmten Gericht Recht zu nehmen, ferner das für die betreffende Person örtlich zuständige Gericht. Die Zuständigkeit (Kompetenz) eines Gerichts ist im allgemeinen durch die Gerichtsverfassung (s.d.) und durch die räumliche Abgrenzung der Gerichtsbezirke (s.d.) bestimmt. Im einzelnen Fall entspricht aber die örtliche Zuständigkeit des Gerichts dem G.

I. Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten. Da die örtliche Zuständigkeit des Gerichts durch den G. des Beklagten bestimmt wird, muß sich der Kläger an ein Gericht wenden, bei dem der Beklagte seinen G. hat (actor sequitur forum rei). Nach der deutschen Zivilprozeßordnung (§ 38) kann aber ein G. auch durch Vereinbarung begründet werden, wenn es sich um eine vermögensrechtliche Klage handelt, für die ein ausschließlicher G. nicht begründet ist. Auch darf nach § 39 ein an sich unzuständiges Gericht trotz seiner Unzuständigkeit den Prozeß durchführen, sobald der Beklagte mündlich zur Hauptsache verhandelt hat, ohne die Unzuständigkeit des Gerichts zu rügen. Auch das österreichische Gesetz über die Ausübung der Gerichtsbarkeit vom 1. Aug. 1895 läßt eine solche Vereinbarung zu. Im übrigen wird zwischen dem allgemeinen G. und dem besondern G. unterschieden, der erstere greift durch, soweit nicht ein besonderer G. vorgesehen ist.

1) Nach der deutschen Zivilprozeßordnung (§ 13) ist allgemeiner G. der G. des Wohnortes (forum domicilii). Für solche Personen, die keinen Wohnsitz haben, tritt nach § 16 der Aufenthaltsort im Deutschen Reich an die Stelle des Wohnortes. Ist auch ein solcher nicht bekannt, so ist der letzte frühere Wohnsitz maßgebend. Für vermögensrechtliche Klagen gegen Personen, die einen längern Aufenthalt an einem Ort genommen haben, wie Dienstboten, Fabrikarbeiter, Studierende, Schüler oder Lehrlinge etc., ist nach § 20 ebenfalls der G. des Aufenthaltsorts entscheidend. Für Klagen aus Geschäften, die unmittelbar von einer zum Betrieb einer Fabrik oder eines andern Gewerbes bestimmten Niederlassung geschlaffen wurden oder den landwirtschaftlichen Betrieb eines Gutes betreffen, sieht § 21 einen allgemeinen G. der Niederlassung vor.

2) Besondere Gerichtsstände (fora specialia) sind nach der deutschen Zivilprozeßordnung (§ 23 bis 34) a) der G. der gelegenen Sache (forum rei sitae), bei dem die eine unbewegliche Sache (Grundstück) betreffenden dinglichen Klagen angestellt werden müssen, und gewisse persönliche Klagen, die sich auf das Grundstück beziehen, erhoben werden dürfen. b) Der G. des Erfüllungsortes (forum solutionis) für Klagen auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Vertrags, auf Erfüllung oder Aufhebung eines solchen sowie auf Entschädigung wegen Nichterfüllung bei dem Gerichte des Erfüllungsortes. c) Der G. des Meß- oder Marktortes für Klagen aus Handelsgeschäften, die auf Messen oder Märkten abgeschlossen wurden, sofern sich der Beklagte zur Zeit der Klageerhebung an dem Meß- oder Marktort oder in dem Gerichtsbezirk dieses Ortes aufhält. d) Der G. der Erbschaft, d. h. der allgegemeine G. des Erblassers zur Zeit seines Todes, für Nachlaßstreitigkeiten. e) Der G. der Verwaltung (ferum gestae administrationis) für Klagen aus einer Vermögensverwaltung am Orte derselben. f) Der G. der unerlaubten Handlung (forum delicti commissi) für die Klagen aus einer unerlaubten Handlung am Orte der Tat. g) Der G. des Vermögens, der, wenn der Beklagte im Deutschen Reiche keinen Wohnsitz hat, da begründet ist, wo sich der vom Kläger beanspruchte Gegenstand oder irgend welches Vermögen des Beklagten befindet. h) Der G. des Zusammenhanges, der nach § 33 für Widerklagen bei Gericht der Hauptklage und nach § 34 für die Klagen der Prozeß bevollmächtigten, Beistände und Gerichtsvollzieher bei dem Gerichte des Hauptprozesses begründet ist. Unter mehreren zuständigen Gerichten hat der Kläger die Wahl. In dem (oben erwähnten) österreichischen Gesetz vom 1. Aug. 1895 (§ 65ff.) finden sich eingehende Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit, die im allgemeinen denjenigen des deutschen Rechts entsprachen.

II. Strafsachen. Im Strafprozeß bildet den G. dasjenige Gericht, vor dem sich der Beschuldigte verantworten muß. Dieser braucht sich nur vor einem zuständigen Gericht zu stellen. Unter mehreren zuständigen Gerichten entscheidet die sogen. Prävention; das Gericht, das zuerst die Untersuchung eröffnete, geht vor. Der G. ist ein ordentlicher oder ein außerordentlicher, je nachdem er für den gegebenen Fall durch die Gerichtsverfassung bestimmt oder durch eine besondere Anordnung begründet ist. Letzteres kann nach der deutschen Strafprozeßordnung nur dann geschehen, wenn kein ordentlicher G. vorhanden ist, in welchem Fall das Reichsgericht den G. bestimmt; ferner, wenn das zuständige Gericht, z. B. durch Ablehnung der Mitglieder dieses Gerichts, verhindert ist, und endlich auch dann, wenn im Revisionsweg das Urteil des zuständigen Gerichts aufgehoben wird. In diesem Fall darf das Revisionsgericht die Sache zur anderweiten Verhandlung an ein gleichstehendes benachbartes Gericht desselben Bundesstaats verweisen. Ordentliche Gerichtsstände sind folgende: 1) Der G. des Ortes der Tat (forum delicti commissi), das Gericht, in dessen Sprengel der Ort liegt, wo die Tat begangen ist. 2) Der G. des Wohnsitzes des Beschuldigten zur Zeit der Erhebung der Klage (forum domicilii), der nach der deutschen wie nach der österreichischen Strafprozeßordnung neben dem G. des Tatortes wahlweise zur Anwendung kommen kann, und an dessen Stelle unter Umständen der G. des Aufenthaltsorts des Beschuldigten tritt, wenn er im Deutschen Reiche-keinen Wohnsitz hat. 3) Der G. der Ergreifung (in Österreich »der Betretung«), d. h. das Gericht, in dessen Bezirk der Beschuldigte ergriffen wird oder angetroffen werden kann (forum deprehensionis, s. Deprehension). 4) Der G. des Zusammenhanges, der z. B. dann zutrifft, wenn mehrere Strafansprüche gegen dieselbe Person vorliegen. Bei wechselseitigen Beleidigungen und Körperverletzungen kann der Beschuldigte bei dem Gericht, bei dem die Privatklage gegen ihn erhoben ist, Widerklage gegen den Ankläger erheben. Ein besonderer (privilegierter) G. kann zu Gunsten der Mitglieder von landesherrlichen Familien durch die Landesgesetze oder die Hausverfassung vorgesehen werden. Über den G. der Presses. Ambulanter Gerichtsstand. Vgl. Richter, Die Zuständigkeit in Strafsachen, tabellarische Übersicht (2. Aufl., Dresd. 1879).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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