Gerichtliche Tiermedizin

Gerichtliche Tiermedizin

Gerichtliche Tiermedizin (Medicina veterinaria forensis) ist die Anwendung des tierärztlichen Wissens in der Rechtspflege, namentlich bei Streitigkeiten im Viehhandel, bei denen zu ermitteln ist, ob das streitige Tier mit einem Mangel behaftet ist, der einen Rechtsanspruch des Käufers begründet. Maßgebend sind für den Handel mit Einhufern, Wiederkäuern und Schweinen in Deutschland § 481–492 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Danach haftet der Verkäufer ohne weiteres nur für bestimmte Fehler (Hauptmängel) und auch für diese nur dann, wenn sie innerhalb bestimmter Fristen (Gewährfristen) nach der Übergabe des Tieres sich zeigen. Zeigt sich aber der Mangel innerhalb der Gewährfrist, so wird ohne weitern Beweis angenommen, daß er schon bei der Übergabe vorhanden war, und der Verkäufer ist dafür einzustehen verpflichtet (Gewährpflicht). Natürlich muß aber der Mangel selbst tierärztlich festgestellt werden. Der Käufer muß ferner, bei Verlust seines Anspruches, spätestens zwei Tage nach dem Ablauf der Gewährsfrist, resp. wenn das Tier gestorben, zwei Tage nach dem Tode dem Verkäufer den (genau bezeichneten) Mangel anzeigen (mündlich oder mit Einschreibebrief) oder gerichtliche Beweisaufnahme (über das Vorhandensein des Mangels) beantragen. Letzteres kann auch der Verkäufer nach Empfang der Anzeige tun. Der Käufer hat ferner seinen Anspruch auf dem Klagewege binnen einer bestimmten Frist (Verjährungsfrist) geltend zu machen, die vom Ablauf der Gewährfrist an 6 Wochen beträgt. Die Beantragung der gerichtlichen Beweisaufnahme gilt jedoch in dieser Beziehung der Klage gleich. Die Klage kann nur auf Wandlung lauten, d. h. auf Rückerstattung des Kaufpreises gegen Zurückgabe des Tieres oder seiner Reste; denn auch wenn das Tier geschlachtet oder gestorben ist und erst dabei der Hauptmangel sich gezeigt hat, kann der Käufer Wandlung verlangen. Die früher beliebte Minderungsklage, wobei der Käufer das Tier behielt und nur einen Teil des Kaufpreises (entsprechend dem Minderwert des Tieres infolge seines Mangels) zurückverlangte, ist nicht mehr zulässig. Während des Rechtsstreites kann auf Antrag einer Partei das Gericht die Versteigerung des Tieres (zur Vermeidung weiterer Futterkosten) anordnen.

Die Hauptmängel und die zugehörigen Gewährsfristen werden durch kaiserliche Verordnung bestimmt und sind gegenwärtig folgende: bei Pferden (Eseln etc.) Rotz, Dummkoller, Dämpfigkeit, Kehlkopfpfeifen, periodische Augenentzündung und Koppen mit je 14tägiger Gewährfrist; bei Rindern Tuberkulose, sofern dadurch eine allgemeine Beeinträchtigung des Nährzustandes herbeigeführt ist, mit 14 Tagen, und Lungenseuche mit 28 Tagen; bei Schafen Räude mit 14 Tagen; bei Schweinen Rotlauf mit 3 und Schweineseuche, bez. Schweinepest mit 10Tagen. Wenn jedoch die Tiere alsbald geschlachtet werden und als Nahrungsmittel für Menschen dienen sollen, so gelten folgende Hauptmängel mit durchweg 14tägiger Gewährfrist: bei Pferden Rotz; bei Rindern Tuberkulose, sofern infolge derselben mehr als die Hälfte des Schlachtgewichts nicht vollständig genußtauglich ist; bei Schafen allgemeine Wassersucht; bei Schweinen Tuberkulose unter derselben Voraussetzung wie bei Rindern, ferner Trichinen und Finnen. – Nach § 492 des Bürgerlichen Gesetzbuches kann durch besondere Verabredung die Verpflichtung des Verkäufers geändert, namentlich auch auf andre Fehler, als die Hauptmängel, ausgedehnt werden. Diese Fehler werden dadurch zu Gewährfehlern, für die auch eine Gewährfrist verabredet werden kann. Außerhalb einer solchen Frist muß der Käufer durch tierärztliches Gutachten beweisen, daß der Fehler schon bei der Übergabe vorhanden gewesen ist. Anderseits kann der Verkäufer durch Verabredung die Gewährpflicht auch für die Hauptmängel ausdrücklich ausschließen. Der Käufer kann sich auch eine bestimmte Eigenschaft (z. B. daß das Pferd geritten ist) oder das Nichtvorhandensein eines Fehlers (z. B. daß das Pferd nicht schlägt) zusichern lassen. Endlich können durch Verabredung die Gewährfristen abgeändert und auch die Verjährungsfrist verlängert werden. Im reellen Tierhandel ist danach folgendes besonders zu beachten, resp. zu empfehlen: a) Für den Verkäufer: der Ausschluß jeder Gewährpflicht drückt natürlich den Preis und ist höchstens bei Schlachtvieh, das weit fortgebracht werden soll, angebracht. Bei Schlachttieren wird der Verkäufer jedenfalls aber nicht über die gesetzliche Gewährpflicht für Hauptmängel hinausgehen. Dagegen kann er bei Nutz- und Zuchttieren gegen entsprechenden Preis unbedenklich die Garantie für alle erheblichen und verborgenen Mängel übernehmen. Nicht einlassen wird er sich auf die Garantie für »alle« Fehler schlichtweg (weil darunter auch unerhebliche verstanden werden) sowie auf Zusicherung der Fehlerfreiheit oder sonstiger allgemeiner, nicht genau umgrenzter Eigenschaften (z. B. daß das Pferd »brauchbar« ist). Ablehnen wird er ferner Verlängerung der Fristen sowie Vereinbarung von Gewährfristen für die Fehler, die nicht gesetzliche Fehler (d. h. Hauptmängel) sind. Sobald ihm der Käufer den Mangel anzeigt, kann der Verkäufer gerichtliche Beweisaufnahme beantragen. b) Für den Käufer: der Käufer wird sich bei Pferden und Nutzrindern »Gewähr für alle erheblichen und verborgenen Fehler, nicht bloß für die Hauptmängel«, zusichern lassen. Innerhalb der Gewährfristen für die Hauptmängel, d. h. innerhalb der ersten 14, bei Schweinen der ersten 3–10 Tage, wird besonders auf das Auftreten verdächtiger Erscheinungen zu achten und im Falle derselben sofort tierärztliche Untersuchung herbeizuführen sein, desgleichen wenn ein Tier stirbt. Ist ein Hauptmangel innerhalb der Gewährfrist festgestellt, so wird der Käufer am besten sofort, spätestens 2 Tage nach Ablauf der Gewährfrist, gerichtlichen Beweis beantragen (bez. dem Verkäufer Anzeige machen). Wenn dem Käufer die Garantie für alle erheblichen Fehler gegeben ist, so hat er aber eine weitere Beobachtungszeit von 5 Wochen und höchstens 5 Tagen, bei Hauptmängeln vom Ablauf der Gewährfrist, bei allen andern Gewährfehlern von der Übergabe ab. Zeigt sich in dieser Zeit ein Hauptmangel oder andrer Gewährfehler, so kann der Käufer auf Wandlung klagen. Er muß nur auch bei einem Hauptmangel beweisen, daß der Mangel bei der Übergabe schon vorhanden gewesen ist. Im übrigen muß er innerhalb dieser 5 Wochen und 5 Tage jedenfalls klagen oder gerichtlichen Beweis beantragen, weil sonst mit Ablauf der Verjährungsfrist jeder Anspruch erlischt. Für beide Parteien ist es dringend ratsam, alle besondern Verabredungen schriftlich festzusetzen. Für den Handel mit andern Tieren, z. B. mit Hunden, gelten die allgemeinen Handelsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (§433–480). Vgl. Dieckerhoff, Gerichtliche Tierarzneikunde (3. Aufl., Berl. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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