Genfer Konvention

Genfer Konvention

Genfer Konvention, ein völkerrechtlicher, internationaler Vertrag, durch den der Schutz der Verwundeten, der bisher immer nur für den einzelnen Fall auf die Dauer eines Krieges oder bestimmten Zeitraums von den betreffenden kriegführenden Staaten unter sich als verbindlich anerkannt worden war, für alle Zeiten gesetzlich sanktioniert wurde. Infolge der Beschlüsse der Genfer Konferenz (s.d.) vom 26. Okt. 1863 erließ der Schweizer Bundesrat 6. Juli 1864 an 25 Regierungen Einladungen zur Beschickung eines diplomatischen Kongresses. Diesem von 16 Mächten beschickten Kongreß wurde ein aus elf Artikeln bestehender, vom Genfer Komitee ausgearbeiteter Vertragsentwurf vorgelegt, und der vom Kongreß angenommene Vertrag bildet die noch setzt in Geltung stehende Konvention, der sich außer allen europäischen Mächten die Vereinigten Staaten, Persien, Japan, Bolivia, Chile, Argentinien, Uruguay und Peru angeschlossen haben.

Der Inhalt der Konvention bezieht sich 1) auf die verwundeten und erkrankten Soldaten, 2) auf die Ärzte und das Hilfspersonal und 3) auf die Hospitäler und die Materialausstattung. Hospitäler und Ambulanzen werden (Art. 1) auf so lange, als sich Kranke und Verwundete darin befinden, und solange sie nicht von einer bewaffneten Macht bewacht sind, für neutral erklärt, das Material der Militärhospitäler bleibt den Kriegsgesetzen unterworfen, während das mobile Feldlazarett und die Sanitätsdetachements (l'ambulance) unter gleichen Verhältnissen ihr Material behalten sollen (Art. 4). Das Personal der Hospitäler und Feldlazarette (einschließlich der Intendantur, der Sanitäts- und Verwaltungsbeamten, der mit dem Transport der Verwundeten Beauftragten und der Feldgeistlichen) soll an der Wohltat der Neutralität teilnehmen, solange es in der Ausübung seines Berufs ist, und solange es Verwundete gibt, die aufzunehmen sind, oder denen Beistand zu leisten ist (Art. 2). Freiwillige Krankenpfleger, soweit sie nicht dem amtlichen Personal inkorporiert worden sind, haben keinen Anspruch auf Neutralität. Das neutrale Personal kann auch nach der Besetzung durch den Feind fortfahren, seine Pflichten in dem Hospital oder dem Feldlazarett zu erfüllen, oder sich zurückziehen. Sobald es aufhört, seinen Beruf auszuüben, wird der besitzergreifende Truppenteil dafür Sorge tragen, es den feindlichen Vorposten zu überliefern (Art. 3). Das sich zurückziehende Personal der Hospitäler (Art. 4) darf nur sein Privateigentum mitnehmen. Die verwundeten und erkrankten Krieger sollen (Art. 6) aufgenommen und verpflegt werden, zu welcher Nation sie auch gehören. Die Oberbefehlshaber sind ermächtigt, die während eines Gefechts verwundeten Krieger sofort an die feindlichen Vorposten abzuliefern, wofern es die Umstände gestatten, und mit Einwilligung beider Teile. Alle nach ihrer Herstellung dienstuntauglich Befundenen sollen in ihre Heimat entlassen werden. Auch die andern können entlassen werden, jedoch mit der Bedingung, für die Dauer des Krieges nicht mehr die Waffen zu fuhren. Jeder in ein Haus aufgenommene und gepflegte Verwundete (Art. 5, Abs. 3 u. 4) dient diesem als Sauvegarde; jeder Einwohner, der Verwundete bei sich aufgenommen hat, soll von Einquartierung und einem Teil der etwa auferlegten Kriegskontributionen frei sein. Diejenigen Landesbewohner (Art. 5, Abs. 1 u. 2), die den Verwundeten zu Hilfe eilen, sollen respektiert werden und freibleiben; den Befehlshabern der kriegführenden Mächte liegt die Verpflichtung ob, einen Ausruf an die Menschenliebe der Einwohner zu erlassen und dieselben von der Neutralität, die für sie daraus erfolgt, zu unterrichten. Art. 8 überläßt den Oberbefehlshabern die Einzelheiten der Ausführung der Konvention nach Maßgabe der Instruktion ihrer Regierungen und der allgemeinen Grundsätze, die in der Konvention ausgesprochen und geregelt worden. Auch die Räumungstransporte (les evacuations) und ihr Begleitungspersonal werden unter den Schutz unbedingter Neutralität gestellt (Art. 6, Abs. 5). Als allgemeines Neutralitätszeichen (Art. 7) gelten die Cahne und die Armbinde mit dem roten Kreuz auf weißem Feld (s. Tafel »Flaggen I«, Fig. 72), mit der ausdrücklichen Bestimmung, daß die Verabfolgung der Armbinde nur den Militärbehörden überlassen bleiben solle. Derjenige, der die Neutralitätsbinde trägt, ohne dazu berechtigt zu sein, setzt sich schwerer Verantwortlichkeit und Gefahr aus.

Zur praktischen Anwendung gelangte die Konvention zuerst in den 1866er Kriegen; hierbei erwies sich die Ausführbarkeit ihres Grundgedankens, zugleich aber auch die Notwendigkeit einer Revision der Konvention. Nach einigen vorbereitenden Versammlungen in Berlin, Paris und Würzburg trat in Paris ein Privatkongreß zusammen, dessen Beschlüsse als Wünsche den Konventionsregierungen für die Revision des internationalen Vertrags selbst unterbreitet wurden. Zur Beratung dieser Wünsche traten 5. Okt. 1868 in Genf die Vertreter von 14 Mächten zu einem diplomatischen Kongreß zusammen, der von einer Revision und Umarbeitung der Konvention absah, sich vielmehr auf die Beratung von Zusatzartikeln beschränkte und bestimmte, daß die vereinbarten Zusätze lediglich den Charakter eines Projekts haben sollten. Der Inhalt dieser Zusatzartikel entsprach den ausgesprochenen Wünschen nicht. Keine Berücksichtigung fanden von vornherein: die Ausdehnung der Neutralität auf die Mitglieder der Hilfsvereine, die Feststellung einer Kontrollmaßregel zur Verhütung des Mißbrauchs der Neutralitätsbinde und die Annahme eines gemeinsamen Zeichens zur Feststellung der Identität der Gefallenen. Von den 14 Zusatzartikeln beziehen sich 9 auf Ausdehnung der Konvention auf die Marine, 5 enthalten Zusätze zur 1864er Konvention. In den letztern wird eine genauere Definition der Benennung »Ambulance« gegeben (Zusatzart. 3) und bestimmt, daß den in die Hände der feindlichen Armeen gefallenen neutralen Personen der Fortgenuß ihrer Gehaltbezüge gesichert bleiben solle (Zusatzart. 2). Weiter werden die unverständlichen und unausführbaren Vorschriften des Art. 5 der Konvention dahin modifiziert, daß bei der Verteilung der aus der Einquartierung der Truppen und aus den zu leistenden Kriegskontributionen entstehenden Lasten das Maß des von den betreffenden Einwohnern entwickelten Eifers für Mildtätigkeit in Betracht gezogen werden solle. Zusatzart. 5 erweitert die Bestimmung im Art. 6 der Konvention dahin: »daß, mit Ausnahme derjenigen Offiziere, deren Anwesenheit in der betreffenden Armee auf den Erfolg der Waffen von Einfluß sein würde, die in die Hände des Feindes gefallenen Verwundeten, selbst wenn sie nicht als unfähig zum Fortdienen erkannt werden, nach erfolgter Herstellung oder noch früher in ihre Heimat zurückzusenden sind (früher. können') unter der Bedingung, daß sie während der Dauer des Krieges nicht wieder die Waffen führen dürfen«: eine Erweiterung, welche die Ausführung dieses Zusatzartikels absolut unmöglich macht. Einflußreicher ist dagegen die im ersten Zusatzartikel enthaltene Neuerung, die das im Art. 3 der Konvention enthaltene »können« beseitigt und in vorschreibender Weise bestimmt: »Das Hilfspersonal fährt nach der Besetzung durch den Feind fort, den Kranken und Verwundeten des Feldlazaretts etc. seine Sorgfalt zuzuwenden. Sobald dieses Personal sich zurückzuziehen wünscht, hat der Kommandant der Besatzungstruppen den Zeitpunkt des Abzugs zu bestimmen, den er jedoch nur auf eine kurze Zeitdauer und zwar, sobald militärische Notwendigkeiten vorliegen, hinausschieben kann.«

Diese Zusatzartikel sind niemals ratifiziert worden. Sie bilden daher kein geltendes Recht; nur während des deutsch-französischen Krieges haben sie vermöge eines ausdrücklichen Übereinkommens zwischen den kriegführenden Staaten in praktischer Geltung gestanden. Die damals und in den spätern Kriegen gemachten Erfahrungen werden nicht dazu beitragen, die Abneigung der Mächte gegen eine staatsverbindliche Ausdehnung der Konvention von 1864 zu beseitigen.

1874 beschäftigte sich der in Brüssel tagende, von 15 Staaten und von allen europäischen Großmächten beschickte völkerrechtliche Kongreß über das gesamte internationale Kriegsrecht auch mit der G. K.

Auch die dort gefaßten Kommissionsbeschlüsse haben keine praktische Geltung erlangt. Das Gleiche ist der Fall mit ähnlichen Beschlüssen, die auf der Haager Friedenskonferenz gefaßt wurden und sich besonders auf den Seekrieg beziehen. Tatsächlich steht die Konvention von 1864 allein in Kraft. Sie bedarf aber dringend einer Revision, denn sie enthält unausführbare Bestimmungen, die notwendigerweise durch die allmächtige Gewalt der Tatsachen durchbrochen werden müssen. Hieraus erklärt sich ein großer Teil der in den letzten Kriegen beklagten sogen. Konventionsverletzungen. Bei einer Revision wird, abgesehen von den bereits oben dargelegten Gesichtspunkten, vor allem darauf Rücksicht zu nehmen sein, den vagen und unrichtigen Ausdruck Neutralität durch den Begriff Unverletzlichkeit zu ersetzen und die Hauptbestimmungen des Vertrags in die militärischen Reglements und Sanitätsinstruktionen der kontrahierenden Staaten aufzunehmen. In Deutschland ist dieses Ziel bereits teilweise erreicht, indem, ohne Bezugnahme auf Gegenseitigkeit und internationale Verträge, in § 5 der Kriegssanitätsordnung vom 10. Jan. 1878 bestimmt ist: »Kranke und verwundete Kriegsgefangene nehmen gleich den Soldaten des deutschen Heeres und den Angehörigen verbündeter Heere an der Krankenpflege teil«. Vgl. Gurlt, Der internationale Schutz der im Felde verwundeten und erkrankten Krieger (Berl. 1869); Palasciano, La neutralità dei feriti in tempo di guerra (Neap. 1861); Moynier, Étude sur la convention de Genève (Par. 1870); »Verhandlungen der internationalen Konferenz zu Berlin vom 22.- 27. April 1869«; Schmidt-Ernsthausen, Das Prinzip der G. K. (Berl. 1874); v. Corvàl, Die G. K. im Kriege von 1870/71 (Karlsr. 1874); Lueder, Die G. K. (Erlang. 1876, auch franz. Ausg.); Molnar, Die G. K. (in Reclams Universal-Bibliothek); Moynier, La révision de la convention de Genève (Genf 1899); Wiegand, Die G. K. (Berl. 1902); I. Meyer, Geschichte der G. K. (Heft 1 der »Schriften der Vereine vom Roten Kreuz«, Berl. 1901).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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