- Fruchtbarkeit
Fruchtbarkeit (Foecunditas), im physiologischen Sinne die Quantität des Zeugens in der organischen Natur. Ihr Grad wird bestimmt nach der Zahl der Individuen, die bei ein und demselben Zeugungsvorgang entstehen, und nach der Zahl der Zeugungsvorgänge, die während einer bestimmten Zeit oder während des Lebens des zeugenden Individuums stattfinden. Infusorien pflanzen sich in zahlloser Menge fort, ebenso viele Würmer und Mollusken. In einer Auster fand man eine Million, in der Archenmuschel (Arca Noae) 2 Mill. Eier; ein Bandwurm kann 40, der Spulwurm sogar 60 Mill. Eier abgeben. Ebenfalls sehr groß ist die F. der Insekten und Fische; beim Stör und Kabeljau hat man mehrere Millionen Eier gefunden. Weit geringer ist die F. bei den Reptilien und Amphibien, unter denen die Batrachier noch am fruchtbarsten sind. Noch geringer ist die F. der Vögel und Säugetiere. Manche Vögel legen jährlich nur 2 Eier (Geier, Adler), andre viel mehr: ein afrikanischer Fink (Pytalia subflava) legte im Jahr 121 Eier; viele Säugetiere werfen nur ein Junges, bis 15 im Jahr aber die Wanderratte und die Spitzmaus. Ein Rattenpärchen könnte in zehn Jahren 48 Trillionen Nachkommen erzeugt haben. Bei den Menschen rechnet man auf eine Ehe 3–4 Kinder, auf 23–30 lebende Menschen im Jahr eine Geburt, auf 50 Ehen eine unfruchtbare. Die Zahl der einfachen Geburten verhält sich zu der der Zwillingsgeburten in Deutschland wie 60–70 zu 1, in Frankreich wie 70–80 zu 1, in England wie 72 zu 1. Ungefähr auf 6–7000 einfache Geburten kommt eine Drillingsgeburt, auf 20,000 bis 50,000 eine Vierlingsgeburt und auf mehrere Millionen vielleicht eine Fünflingsgeburt. Äußerst selten sind Sechslingsgeburten beobachtet worden. Die niedern Tiere sind fruchtbarer als die höhern, weit teils die Zeugung bei jenen ein einfacherer Hergang, teils das Erzeugte ein unvollkommneres Wesen ist und sich daher auch früher fortpflanzt. Bei äußerer Befruchtung ist die F. größer als bei innerer, ebenso bei Tieren, die ihre Nahrung leicht und in Menge finden, wie die Pflanzenfresser. Auch die Größe der Tiere, die Dauer der Tragezeit sind von Einfluß. Wassertiere sind meist viel fruchtbarer als Landtiere. Im allgemeinen ist die Zahl der entwickelungsfähigen Keime um so größer, je geringer ihre Aussicht auf Entwickelung ist.
Die F. bei den verschiedenen Individuen einer Art unterliegt erheblichen Schwankungen. Die bestimmenden Momente sind erst höchst mangelhaft erforscht. Am besten bekannt sind die Einflüsse des Klimas auf die F. Im äußersten Norden, unter 70–80° Breite, ist die F. sehr gering, so unter den Lappländern, Grönländern, Eskimo, Samojeden, Ostjaken, Jakuten, Kamtschadalen. Im nördlichen Teil der gemäßigten Zone, unter 50–70° Breite, ist die F. größer als im südlichen, unter 40–50°. Weiter gegen Süden und, wie es scheint, vorzüglich im nördlichen Teil der heißen Zone, unter 10–40° Breite, nimmt die F. zu. Larrey bemerkte, daß mehrere Frauen, die in Europa unfruchtbar gewesen waren, beim französischen Heer in Ägypten schwanger wurden. Besonders hat auch die Wärme an der F. eines Landes großen Anteil. Das Kaninchen wirft bei uns jährlich drei- bis viermal, in warmen Ländern sieben- bis achtmal. Auch die Feuchtigkeit der Luft scheint einigen Einfluß auf die F. auszuüben, da sie an den Küsten größer ist als mitten im Land und z. B. Luzern im Vergleich gegen Unterwalden, die Normandie gegen die Champagne und die Niederlande gegen Deutschland fruchtbarer sind. Bei Hungersnot werden weniger, in fruchtbaren Jahren mehr Kinder erzeugt. Die Haustiere, die überhaupt fruchtbarer sind als Tiere im wilden Zustand, pflanzen sich häufiger fort, wenn sie besonders reichlich gefüttert werden, unter welcher Bedingung z. B. das Schwein binnen 13 Monaten dreimal wirft. Einfache Lebensweise begünstigt die F. des Menschen; sie ist daher im allgemeinen größer unter der ärmern als unter der reichern Bevölkerung, auf dem Lande größer als in großen Städten. Freie industriöse Völker sind fruchtbarer als luxuriöse und unterjochte. Die F. ist erblich, eine gewisse körperliche und geistige Aufregung scheint sie zu unterstützen. So erfolgt oft nach Fiebern Befruchtung, selbst bei Frauen, die bisher unfruchtbar gewesen waren; in den ersten Jahren nach ansteckenden Seuchen, nach Kriegen sowie nach Hungersnot nimmt die Bevölkerung in ungewöhnlichem Maße wieder zu.
Die Fruchtbarkeit der Pflanzen, d. h. die Zahl der von einer Mutterpflanze auf geschlechtlichem Weg erzeugten Embryonen, hängt, wie die F. der Tiere, in erster Linie von der Anzahl der befruchtungsfähigen Eizellen sowie von dem Erfolg der Befruchtung selbst ab. Nur in seltenen Fällen, wie bei Santalum album und bei einigen Orchideen, produziert eine Samenknospe zwei Embryonen; auch kommt bei einigen Liliazeen (Hosta, Allium) sowie bei Citrus-Arten und Mangifera indica Polyembryonie vor, d. h. nach stattgefundener Befruchtung wachsen statt des normalen, aus der Eizelle hervorgehenden Embryos mehrere Zellen der Samenanlage zu Adventivembryonen heran. Abgesehen von diesen Ausnahmefällen, kann sonst ein einzelnes Ovulum auch nur einen einzelnen reisen Embryo hervorbringen. Die Zahl der befruchtungsfähigen Samenanlagen im einzelnen Fruchtknoten ist bei den meisten Pflanzenfamilien nur geringen Schwankungen unterworfen, für die ganze Pflanze ist sie dagegen eine sehr variable Größe und schwankt je nach der Zahl der entwickelten Blüten innerhalb weiter Grenzen.
Einer der wichtigsten Faktoren der F. ist die Art der Bestäubung, d. h. der Übertragung des Blütenstaubes auf die empfängnisfähige Narbe (Näheres s. Blütenbestäubung). Bei den insektenblütigen Pflanzen hat die Häufigkeit oder Seltenheit der ihnen zuteil werdenden Insektenbesuche einen direkt nachweisbaren Einfluß auf die Reichlichkeit der Samenbildung. Bei windblütigen Pflanzen, wie den Getreidearten, kommen für die F. besonders meteorologische Umstände von Wind und Wetter in Betracht; wenn durch Regen während der Blütezeit der Getreidegräser und der Obstbäume die Übertragung des Pollens auf die Narben gehindert war, treten im Ernteertrag starke Ausfälle ein. Auch die Herkunft des Pollens, der die Befruchtung bewirkt, ist für die F. von Belang. Selbstbestäubung ergibt bei vielen Blüten ein ungünstigeres Resultat der Samenbildung als Wechselbestäubung (Fremdbestäubung), für deren Herbeiführung eine Reihe von merkwürdigen Einrichtungen, wie Dichogamie, Heterostylie, Diklinie, Selbststerilität u. a. m., an den Blüten gefunden wird. Bei vielen andern Pflanzen ist die Selbstbefruchtung dagegen erfolgreich. Findet die Befruchtung zwischen Pflanzen verschiedener Art statt, so hängt der Erfolg von der sogen. sexuellen Affinität der gekreuzten Formen ab, die nicht immer mit ihrer systematischen Verwandtschaft parallel läuft; in der Regel erzeugen zwar nur systematisch nahe verwandte Formen Bastarde, jedoch können auch Arten verschiedener Gattungen, z. B. Aegilops und Triticum, Amygdalus und Persica u. a., hybride Nachkommen erzeugen, wie umgekehrt bisweilen auch Varietäten der gleichen Art unter sich unfruchtbar sind. Die F. der Bastarde zeigt sich in der Regel geschwächt, indem ihre Pollenkörner mehr oder weniger verkümmern und der Samenertrag sich verringert oder ganz ausbleibt; in andern Fällen erweisen sich auch Bastarde, z. B. bei Aegilops speltaeformis Jord., als vollkommen fruchtbar, so daß man die Bastardkreuzung als ein wichtiges Mittel anwendet, um neue Formen von Kulturgewächsen zu züchten. Die F. mancher Pflanzen ist sehr groß; so gibt Kerner z. B. für Sisymbrium Sophia 730,000, für Nicotiana Tabacum 360,000, für Erigeron canadense 120,000 Samen an. Die Nachkommen derartiger Gewächse würden bei stetig wachsender Zunahme in wenigen Jahren ein Areal von der Größe der festen Erdoberfläche beanspruchen, wenn nicht zahllose Samen alljährlich vernichtet würden.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.