- Dēlos
Dēlos (jetzt Mikra Dili, »Klein-D.«), eine der Kykladen im Ägäischen Meer, ein schmaler, flacher, 5 qkm großer Granitrücken mit dem Berg Kynthos (106 m), jetzt verödet, war im Altertum blühend als Sklavenmarkt und durch sein Nationalheiligtum der Griechen berühmt. Einst, wieder Mythus erzählt, schwamm die Insel auf dem Meer, bis sie Poseidon für die umherirrende, von der Hera verfolgte Leto (Latona) an vier diamantenen Säulen befestigte. Leto gebar hier den Apollon und die Artemis (daher deren Beinamen Delios und Delia); die Insel war deshalb heilig und wurde ein Hauptsitz der Verehrung beider Gottheiten. Zahlreiche Tempel und Kunstwerke schmückten sie; namentlich galt der prachtvolle Apollotempel nebst der Kolossalstatue des Gottes, einem Weihgeschenk der Naxier, allen Griechen als größtes Heiligtum. Es war ein dorischer Peripteros aus dem Beginn des 4. Jahrh. v. Chr. von 29,49 m Länge und 13,55 m Breite, wie die 1873–89 durch das französische archäologische Institut ausgeführten Nachgrabungen gezeigt haben. Nördlich von ihm stand ein merkwürdiger Altar, der ganz aus Widderhörnern, den Symbolen des Lichtes, zusammengesetzt war und zur Entstehung des sogen. Delischen Problems (s.d.) Veranlassung gab. Sämtliche ionische Staaten schickten hierher feierliche Gesandtschaften (Theorien) mit reichen Opfergaben. Auch befand sich in D. ein Orakel, das zur Zeit seiner Blüte als eins der zuverlässigsten galt, und alle fünf Jahre wurde daselbst das berühmte Delische Fest mit Wettgesängen, Wettkämpfen und Spielen aller Art gefeiert. Die frühesten Bewohner der Insel waren Karier; etwa 1000 Jahre vor Christo wurde sie von den Ioniern besetzt. Nach den Perserkriegen war sie besonders als Mittelpunkt für die große athenische Bundesgenossenschaft wichtig. Infolge der Heiligkeit des Apollotempels ward seit 476 die Bundeskasse hier bewahrt. 454 kam die Insel in Abhängigkeit von Athen, erfreute sich aber nach dessen Sturz durch die Makedonier von neuem der Freiheit, um sie 166 v. Chr. wieder an Athen zu verlieren. Als Handelsplatz blühte die Stadt D., deren Ruinen nördlich von denen des Tempels liegen, erst nach Korinths Zerstörung auf; namentlich ward sie ein vielbesuchter Sklavenmarkt und wegen ihrer Zollfreiheit Mittelpunkt des Verkehrs zwischen dem Schwarzen Meer und Alexandria. Ein schwerer Schlag, von dem sie sich nie wieder erholte, traf die Insel, die selbst die Perser geschont hatten, im Mithradatischen Krieg. Menophanes, der Feldherr des Mithradates, landete 87 mit einer Truppenabteilung, ermordete oder verkaufte die wehrlosen Einwohner und plünderte und zerstörte die Stadt und das Heiligtum mit seinen zahlreichen Kunstschätzen. Lange Zeit war die ganze Insel eine mit Schutt und Trümmern bedeckte Einöde, die sich erst wieder etwas belebt hat, seitdem die Franzosen, zuerst 1873 durch Lebègue, seit 1876 unter der Leitung von Homolle, Reinach u. a., umfassende Ausgrabungen unternommen haben, durch die innerhalb des heiligen Bezirks die Grundrisse von acht Tempeln (des Apollon, zwei der Artemis, des Dionysos), zahlreichen Säulenhallen, Schatzhäusern, Altären etc. aufgedeckt, ferner viele Statuen von den ältesten Zeiten griechischer Kunst an bis zu den spätesten, über 2000 Inschriften, darunter namentlich das Inventar des Tempelschatzes, etc. aufgefunden worden sind. Auf dem Kynthos, wo das älteste Apolloheiligtum (s. Tafel »Architektur III«, Fig. 5) und in römischer Zeit ägyptische Kultstätten lagen, finden sich auch Reste einer aus antiken Trümmern erbauten fränkischen Burg. Neben D. liegt jenseit einer 0,6 km breiten Meerenge die Insel Rheneia (jetzt Megali Dilos, »Groß-D.«), die den Begräbnisplatz von D. bildete, da auf dem heiligen D. niemand geboren werden, auch niemand sterben und ein Grab finden durfte (D. selbst wurde 426 v. Chr. durch die Athener von den früher dort bestatteten Leichen gereinigt). Sie besteht aus zwei mehrfach ausgezackten Bergmassen, die bis 150 m ansteigen und durch einen schmalen Isthmus miteinander verbunden sind, ist 17 qkm groß, noch öder und kahler als D. und wird nur zeitweise von Hirten und Schiffern besucht. Vgl. Lebègue, Recherches à D. (Par. 1876); V. v. Schöffer, De Deli insulae rebus (in den »Berliner Studien für klassische Philologie etc.«, Berl. 1889); Homolle, Les archives de l'intendance sacrée à Délos (Par. 1887); Ardaillon und Convert, Carte archéologique de l'ile de D. levée en 1893–1894 (das. 1901). Die Berichte über die französischen Ausgrabungen sind im »Bulletin de correspondance hellénique« (1879ff.) und in der »Revue archéologique« (neue Serie, Bd. 40) veröffentlicht.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.