- Blindenanstalten
Blindenanstalten (Blindeninstitute). Es gibt, abgesehen von Heilanstalten für Augenkranke, zwei Arten von Instituten für Blinde: Anstalten zur Versorgung unheilbarer Blinden (Blindenhospitäler oder -Asyle), in denen erwachsene Blinde Beschäftigung und Unterhalt finden, und Anstalten zur Erziehung und zum Unterricht blinder Personen, insbes. blindgeborner oder erblindeter Kinder. Aus dem Mittelalter werden als Blindenasyle genannt das angeblich vom erblindeten Herzog Welf VI. um 1178 gegründete Hospital St. Nikolai zu Memmingen (Schwaben) und das 1260 nach dem Kreuzzug Ludwigs des Heiligen von diesem in Paris gestiftete Maison oder Hôpital des Quinze-Vingts; es fanden darin zunächst Ludwigs in Ägypten erblindete Krieger Aufnahme. Nach den Befreiungskriegen wurden in Preußen aus milden Beiträgen für die erblindeten Krieger fünf Werkschulen, worin Anleitung für Handarbeiten erteilt wurde, eingerichtet, von denen die zu Königsberg und Breslau sich in andrer Gestalt bis jetzt erhalten haben. Eigentliche Anstalten zur Erziehung und zum Unterricht Blinder gibt es erst seit 1785. Schon früher hatte man öfters einzelne Blinde in Wissenschaften oder Künsten (Musik besonders) erfolgreich unterrichtet. Aber der Blindenunterricht war noch kein selbständiger Zweig der pädagogischen Didaktik. I. Bernoulli lehrte bereits 1667 zu Genf ein blindes Mädchen schreiben; der blinde englische Mathematiker N. Saunderson (1682–1739) konstruierte mit Nadeln und Schnüren ein Rechen- und Meßbrett. Ähnliches ist von dem blinden Weißenburg in Mannheim um 1780 bekannt, der auch eine Lese- und Schreibmaschine erfand. Das blinde Fräulein M. Th. v. Paradis zu Wien (1759–1824) erdachte sinnreiche Apparate zum Lesen, Schreiben und Notensetzen und brachte es im Orgelspiel zur Virtuosität. Sie hat durch das Zusammentreffen mit Valentin Hauy (s.d.) in Paris (1785) für die Blindensache historische Bedeutung erlangt. Dieser hatte den Plan gefaßt, für die Blinden eine ähnliche Lehranstalt zu errichten, wie der Abbé de l'Epée für Taubstumme, und machte 1784 den Versuch mit einem blinden Knaben, François de Lesueur. Daraus entstand die erste Anstalt, in der blinde Zöglinge nicht nur in Musik und angemessenen Handarbeiten, sondern überhaupt schulmäßig unterrichtet wurden. Zum Lesen, Schreiben etc. gebrauchte Hauy die Apparate, die er durch Fräulein v. Paradis kennen gelernt hatte. 1791 wurde die Anstalt zu einer königlichen erhoben und mit der Taubstummenanstalt zusammengelegt, 4 Jahre später indes wieder von ihr getrennt. Napoleon als Erster Konsul hob die Anstalt Hauys auf, und dieser begab sich 1805 auf Einladung Alexanders I. über Berlin nach Petersburg, um dort ein öffentliches Blindeninstitut einzurichten. Nach der Restauration wurde (1814) die Pariser Blindenanstalt vom Hospital der 300 wieder getrennt. Sie erhielt 90 Freistellen und als Direktor den Arzt Guillié (1814–21), später Pignier (1821–40). Unter diesem erfand Braille (s.d.) seine berühmte Punktschrift. Frankreich besitzt gegenwärtig (1900) 28 B., Paris allein 6. Nach dem Vorgange Frankreichs entstanden B. zunächst in England (Liverpool 1791) durch Privatwohltätigkeit. Jetzt (1900) bestehen in Großbritannien mit Irland 137 öffentliche und private B., in London allein 38. Im übrigen Europa hat sich die Zahl der B. seit Beginn des 19. Jahrh. so weit verbreitet, daß kein Land deren mehr ganz entbehrt, wenn auch kaum irgendwo dem Bedürfnis völlig genügt wird. Amerika zählte 1900: 61 B., wovon 49 auf die Vereinigten Staaten von Nordamerika entfallen. In Deutschland wurde die erste öffentliche Blindenanstalt zu Berlin bei Hauys Durchreise 1806 mit Unterstützung des Königs gegründet und J. A. Zeune (s.d.) zu ihrem Direktor ernannt. 1900 gab es im Deutschen Reiche 81 B. (36 öffentliche), darunter in Preußen 45, in Berlin und Steglitz 11. Man schätzt, daß trotzdem noch mehr als 10 Proz. der jugendlichen Blinden geordneter Ausbildung entbehren. Doch bessert das Verhältnis sich von Jahr zu Jahr. Als Musteranstalt dient zur Ausbildung von Blindenlehrern in Preußen die königliche Blindenanstalt zu Steglitz bei Berlin. In Österreich-Ungarn ist die älteste Blindenanstalt die zu Wien 1804 vom Armendirektor Klein errichtete. Sie ward 1806 vom Staat übernommen. Im ganzen gibt es 1900: 28 B., davon eine in Ungarn (Budapest) und 9. in Wien. Von 137 Lehrern und Lehrerinnen in Österreich-Ungarn waren 1893: 23 selbst blind. In der Schweiz gibt es 1900: 11 B.
In Blindeninstituten erfordern besonders Lese-, Schreib-, natur- und erdkundlicher Unterricht eigentümliches Verfahren. Das Lesen wird von den Blinden jetzt zumeist an der Punktierschrift des blinden Blindenlehrers L. Braille (s.d. und Blindendruck) erlernt. Fast alle Bücher, welche die Blinden gebrauchen, werden in ihr gedruckt oder geschrieben. Das Schreiben der gewöhnlichen Schrift wird daneben geübt, weil es für den Blinden im Verkehr mit Vollsinnigen unentbehrlich ist. Der Unterricht in der Erdkunde geschieht mit Hilfe von Reliefkarten. Der Rechenunterricht beschränkt sich in den Blindeninstituten wesentlich auf Kopfrechnen, unterstützt durch allerlei sinnreiche, tastbare Hilfsmittel. Blinde Zöglinge übertreffen hierin oft ihre vollsinnigen Altersgenossen. Besondere Aufmerksamkeit wird noch immer dem Musikunterricht aus naheliegenden praktischen und psychologischen Gründen gewidmet. Wichtig für die Ausbildung der Blinden ist auch der Unterricht in Handarbeiten, ihre gewerblich-technische Ausbildung. In dieser Hinsicht, wie in Musik und Mathematik, beweisen die Blinden sich oft besonders gelehrig. Auf geistigem Gebiet haben sich viele Blinde ausgezeichnet. Der schon erwähnte blinde Saunderson wirkte als Professor der Mathematik und Physik in Cambridge, Thomas Blacklock (1741–91) war Doktor der Theologie und gern gehörter Prediger in Edinburg, John Metcalf in Manchester (1717–1802) beaufsichtigte den Straßenbau und legte nach selbständigen Plänen und Berechnungen mehrere neue Straßen an, der blinde Oberlehrer Johann Knie zu Breslau (1794–1859) unternahm 1835 ohne Begleiter eine Studienreise nach 11 B., die er später beschrieb; als Bildschnitzer zeichnete sich aus der Tiroler Jos. Kleinhans (1775–1853) etc. Die Verbindung der Blinden- mit Taubstummenanstalten wird jetzt allgemein verworfen, da beiden Anstalten ganz verschiedene Aufgaben gestellt sind. Nur für die seltenen Taubblinden (s. Dreisinnige) bleibt Verbindung bei der Arten des Unterrichts notwendig. Eigentliche Versorgungsanstalten haben nur für kranke und hilflose Blinde Berechtigung. Um so wichtiger sind Arbeitsnachweis und Mithilfe zur Verwertung der Arbeiten Blinder. Die Fürsorge für Blinde ist seit Jahrzehnten wesentlich reger geworden; um so erfreulicher, da infolge der verbesserten öffentlichen Gesundheitspflege der Prozentsatz der Blinden langsam abnimmt. Seit 1873 tagt alle 2 Jahre ein internationaler (ursprünglich deutscher) Blindenlehrerkongreß.
Vgl. außer den Schriften von Valentin Hauy (s.d.), Zeune (s.d.) u. a.: Rösner, Unterricht der Blinden (in Diesterwegs »Wegweiser«, 5. Aufl., Bd. 3, Essen 1877); »Das Blinden-, Idioten- und Taubstummenbildungswesen«, herausgegeben von Merle, Sengelmann und Söder (nur Bd. 1, Norden 1887); Libansky, Die Blindenfürsorge in Österreich-Ungarn und Deutschland (Wien 1898); »Enzyklopädisches Handbuch des Blindenwesens«, herausgegeben von Mell (das. 1900); Pablasek, Die B., deren Bau, Einrichtung etc. (das. 1875); Henrici in Durms »Handbuch der Architektur« (4. Teil, 5. Bd.); Kopp, Geschichte der Blindenbildung (in Schmids »Geschichte der Erziehung«, Bd. 5, S. 5, Stuttg. 1902); »Der Blindenfreund« (Düren, seit 1880; Organ des Kongresses und des Vereins deutscher Blindenlehrer); die französische Monatsschrift »Le Valentin Hauy« mit dem Beiblatt »Louis Braille« (Paris, seit 1883), redigiert von Maurice de la Sizeranne; die englische »Progress« (London, seit 1881); die italienische »L'amico dei Ciechi« (seit 1876) u. a.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.