- Abwässer
Abwässer, die den Haushaltungen (Küchenspülwasser, Badewasser, Waschküchenwasser, Wasserklosetten) und der Straße (Regenwasser, Schmutzwasser, Sprengwasser) sowie der Industrie entstammenden unreinen Wässer, besitzen ungemein verschiedenartige, aber meist solche Zusammensetzung und Beschaffenheit, daß ihre schnelle Beseitigung oder Reinigung aus hygienischen Gründen dringend notwendig erscheint. Sie durchnässen den Boden und die Mauern und begünstigen die Vermehrung Krankheiten erregender Bakterien. Die Hauswässer zeigen, wenn das von den Straßen abfließende Meteorwasser mit ihnen sich mischt, große Übereinstimmung im Gehalt an schwebenden und gelösten fäulnisfähigen Stoffen, gleichviel ob ihnen die festen Exkremente aus Wasserklosetten beigemischt sind oder nicht. 100,000 Teile A. (I mit festen Exkrementen, II ohne feste Exkremente) enthalten:
Die Zusammensetzung der A. schwankt mit den Jahreszeiten (Ungleichheit des Wasserverbrauchs und der atmosphärischen Niederschläge) und entsprechend den Lebensgewohnheiten an den Wochentagen und in den Tagesstunden. Für die Menge der Hauswässer ist der erfahrungsmäßige Verbrauch an Reinwasser für Kopf und Tag maßgebend. Dieser schwankt zwischen 10 und 200 Lit. für 1 Tag, d.h. 3,55 und 73 cbm für Kopf und Jahr. Davon gehen etwa 10 Proz. infolge von Verdunstung ab, während die menschlichen Auswurfstoffe hinzukommen, so daß sich für Kopf und Jahr etwa 3,78–74,1 cbm ergeben. Im Durchschnitt kann man für Tag und Person 150 L., d.h. 54,75 cbm A. im Jahre, rechnen. Dazu kommt das von den Straßen abfließende Schnee- und Regenwasser. Man wird dessen Menge auf 50–75 Proz. der gesamten Niederschläge berechnen können, d.h. auf (0,5–0,75)(hF)/1000 cbm, wenn h die Jahresniederschlagshöhe für den betreffenden Ort in Millimetern und F die Sammelfläche in Quadratmetern bezeichnet. Im allgemeinen kann man 0,6 cbm Regenwasser auf 1 qm rechnen.
Durch Gossen, Rinnsteine und Kanäle mit durchlässiger Sohle hat man schon früh die A. zu sammeln und aus den Städten zu entfernen gesucht. Eine einheitliche Kanalisation bauten in Deutschland zuerst Hamburg (1848) und Altona (1857); Frankfurt a. M. begann 1867, Danzig 1869 und Berlin 1873 mit der Kanalisation. In England, das früher als Deutschland Kanalisation in mehreren Städten besaß, leitete man die abgeführten A. in die nächsten Flüsse, und da England nur kleine Flüsse besitzt, so trat eine unerträgliche Verunreinigung derselben ein, die um die Zeit, als man in Deutschland zu kanalisieren begann, zu rigorosen Maßregeln gegen die Verunreinigung der Wasserläufe führte. In Deutschland verbot man die Einleitung der A. auch in große Flüsse, und nach dem Vorbilde von Croydon bei London wurden bei Danzig und Berlin Rieselfelder (s. d.) angelegt. Später gab man, nachdem sich gezeigt hatte, daß Rieselfelder der Bodenbeschaffenheit oder der ökonomischen Verhältnisse halber nicht überall durchführbar sind, einer mildern Auffassung Raum. Die Flüsse entledigen sich der in sie hineingebrachten Schmutzstoffe nach mehr oder minder langer Zeit und nach dem Durchlaufen einer mehr oder weniger großen Wegstrecke (Selbstreinigung). Sinkstoffe fallen zu Boden, differente Stoffe werden in indifferente übergeführt, gelöste Stoffe werden bis zur Unauffindbarkeit verdünnt, durch Zersetzung, Flächenattraktion, durch Einwirkung von Bakterien, niedern und höhern Pflanzen beseitigt und die zahlreichen eingeschwemmten Bakterien durch Absetzen oder Absterben zum großen Teil beseitigt.
Die Frage, ob A. einer Stadt ohne weiteres in einen nahen Fluß eingeleitet werden dürfen, ist von Fall zu Fall zu entscheiden und z. B. zu bejahen, wo ein reißender Fluß, wie die Isar bei München, die Schmutzstoffe schnell hinwegführt, oder wo der Fluß bald ins Meer mündet, wie der Tiber. In andern Fällen sind die A. vor der Einführung in die Flüsse zu reinigen. Man fängt die Schwimmstoffe mittels besonderer Apparate ab; Riensch wendet Rechen an, die durch eine Maschine abgekratzt werden, der Schmutz wird auf Transportbändern fortgeschafft. Meist wird der Schlamm beim langsamen Hindurchfließen durch Becken mittels Sedimentierung entfernt. Frankfurts Klärbecken hatten bei 80 m Länge und 4 m Schnelligkeit in der Minute einen Nutzeffekt von rund 80 Proz. Wo die Sedimentierung nicht ausreicht, muß man Klärmittel (Kalk, Eisenoxyd etc.) anwenden. Diese begünstigen die Abscheidung der schwebenden Stoffe, ohne indes wesentlich mehr zu erreichen als eine längere Sedimentierung; auf die gelösten Stoffe wirken sie wenig ein, dagegegen töten manche, wie der Ätzkalk, die Bakterien, während andre, wie Aluminiumsulfat, die Bakterien einschließen und mechanisch zu Boden reißen. Die Sedimentierung ist ohne nennenswerten bakteriellen Erfolg. Wo Klärmittel viel Schlamm abscheiden, wird dieser, da er für die Landwirtschaft ziemlich wertlos ist, sehr lästig, und wenn ertzkalk im Überschuß zugesetzt wird, so wird zwar gute Desinfektion erreicht, aber aus dem gereinigten Wasser scheidet sich in Flüssen und Bächen kohlensaurer Kalk ab, in welchem mit niedergegangene Schlammreste faulen, so daß der Übelstand bisweilen größer wird als bei Einleitung von nicht gereinigtem Wasser. Immerhin dürfen die in den Abwässern enthaltenen Krankheitserreger nicht unberücksichtigt bleiben, und jedenfalls dürfen bloß mechanisch geklärte A. in Flüsse nur dann eingelassen werden, wenn das Flußwasser auf weite Strecken hinab zum Trinken überhaupt nicht und für Hausgebrauch nur wenig benutzt wird. Können A. unter solchen Verhältnissen undesinfiziert in Flüsse geleitet werden, so muß doch Sorge getragen werden, daß zu Epidemiezeiten das geklärte Wasser desinfiziert werden kann. Dies geschieht durch zweistündige Einwirkung von 1 kg Chlorkalk auf 15 cbm Wasser. Gute Erfolge erzielt man mehrfach mit dem Trennsystem, welches die Kondensationswässer der Fabriken, auch einen Teil des Regenwassers etc. direkt dem Fluß zuführt. Dadurch wird die Menge der zu reinigenden A. geringer, und man kann mittels Druckluft Terrainschwierigkeiten leicht überwinden (Shone-Mertens-System).
Nach dem Verfahren von Röckner-Rothe werden die A. auf kleinstem Raume mittels in flache Brunnen eingesenkter Eisentürme oder Dome filtriert. Die A. treten unten in den Brunnen ein und von dort in den luftleer gehaltenen Turm bis 6 m hinaus. Hierbei filtriert das Wasser von unten nach oben durch seinen eignen Schlamm hindurch, der durch Zusatz von Kalk etc. beschwert wird. Beim Kohlebreiverfahren von Rothe-Degener werden auf 1 cbm A. 1–2 kg sehr seines Braunkohlenpulver und dann 710–250 g Eisensulfat beigemischt und das Ganze durch die oben beschriebenen Rotheschen Türme geleitet. Bei diesem Verfahren werden gelöste organische Stoffe bis zu 90 Proz. entfernt, und wenn das gereinigte Wasser ein Schönfilter passiert, so wird es vollkommen blank. Der Schlamm fault nicht und gibt gepreßt ein gutes Brennmaterial. Das abfließende Wasser ist nicht mehr fäulnisfähig und eignet sich wegen seines hohen Gehalts an anorganischem Stickstoff zum Berieseln von Wiesen etc. 1879 suchte Alex. Müller A. durch die Einwirkung von Bakterien (Gärungsprozesse) und nachträgliche Oxydation in drainiertem Rieselland zu reinigen, und Frankland wandte Filter an, die abwechselnd mit Flüssigkeit und mit Luft gefüllt wurden. Mit diesem Verfahren erzielte man in mehreren Städten Massachusetts günstige Resultate. Nach Dibdin, der diese Methoden weiter ausbildete (biologisches Verfahren), werden die A. 24 Stunden unter Sauerstoffabschluß und Wärmeschutz in Faulkammern sich selbst überlassen und dann unter Bakterienwirkung und Sauerstoffzufuhr oxydiert. Man sieht aber auch von dem Fäulnisprozeß ab und leitet sofort die Oxydation ein in Becken, die mit Koks gefüllt sind. Das Wasser passiert einen Sandfang und einen Rechen und bleibt dann 2–6 Stunden in den Becken stehen. Nachdem sich der Koks eingearbeitet hat, hält er bis 90 Proz. der suspendierten Stoffe und 56–80 Proz. der organischen Substanzen zurück. Der Gesamtstickstoff vermindert sich um 24–51 Proz. Das Wasser erscheint leicht gelblich, fast klar, und entwickelt keinen übeln Geruch. Die vom Koks zurückgehaltene organische Substanz wird von den Bakterien in der Zeit, wo das Filter mit Luft gefüllt ist, zerlegt, und so entstehen nur geringe Mengen Schlamm. Die Temperatur des Wassers erhöht sich um 5°, und es wird viel Kohlensäure entwickelt. Das gereinigte Wasser ist reich an Mineralstoffen und anorganischem Stickstoff und kann daher zu landwirtschaftlichen Zwecken verwertet werden. Leider stellt sich das Verfahren noch ziemlich teuer, da 1 qm Filterfläche am Tage nicht viel mehr als 1 cbm A. reinigt. Bei Infektionsgefahr muß das gereinigte Wasser mit Chlorkalk desinfiziert worden. Zur elektrolytischen Reinigung der A. schlug Webster vor, den Strom mittels Eisenelektroden durch das Wasser zu leiten. Die Hauptwirkung beruht wohl auf der Bildung von Eisenhydroxyd, das die suspendierten Stoffe niederschlägt. Vorhandene Bakterien werden nicht getötet. Das abfließende Wasser ist gut, allein für eine Stadt von 200,000 Einwohnern werden jährlich über 700 Ton. Eisen verbraucht. Die meisten sonstigen Verfahren beruhen auf der elektrolytischen Chlorentwickelung. Hermite stellt eine desinfizierende Lösung (Hermitin) aus Meerwasser oder einer Lösung von Kochsalz und Chlormagnesium mit Magnesiumhydroxyd dar und leitet die erhaltene Desinfektionsflüssigkeit zur Benutzung in die Häuser.
Die Industrie liefert A. verschiedenster Art. Solche, die nur Schwebstoffe enthalten, reinigt man meist in Klärteichen. A. mit vorwiegend gelösten mineralischen Substanzen können nur chemisch gereinigt werden, doch werden sie bisweilen auch nur bis zum Verschwinden jeder schädlichen Wirkung verdünnt. Manche Reinigungsverfahren stellen sich als industrielle Prozesse dar, zu deren Ausführung die Fabrikanten durch die Konkurrenz gezwungen wurden. Diese Prozesse liefern dann wieder A., die aber minder schädlich sind als die ursprünglichen. Am schädlichsten sind A. mit hohem Gehalt an fäulnisfähigen Substanzen (Stärke-, Zuckerfabrikation), da diese durch Bildung von Fäulnisgasen die Luft verpesten und die Gewässer, in die sie gelangen, in unerträglicher Weise verunreinigen. Man trennt z. B. in Zuckerfabriken die Fallwässer und Kondensationswässer, die nur geringe Spuren von Zucker oder Ammoniakverbindungen enthalten, von den übrigen, kühlt sie und kann sie dann ohne weitere Reinigung ablassen. Die viel unreinern Rübenschwemm- und Waschwässer werden durch Fangvorrichtungen von Rübenteilen befreit und sind dann weiter zu reinigen, können aber in wasserreiche Wasserläufe ohne weiteres abgelassen werden. Für die schlimmsten A., wie Schnitzelpreß-, Knochenkohlewaschwässer etc., empfiehlt sich Rieselung oder das biologische Verfahren. – Für das Studium der Abwässerfrage, Prüfung neuer Methoden und Auskunftserteilung und sanitätstechnische Beratung auf diesem Gebiet ist die königliche Versuchs- und Prüfungsanstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung 1902 in Berlin gegründet worden. Vgl. König, Die Verunreinigung der Gewässer (2. Aufl., Berl. 1899, 2 Bde.); Gerson, Die Verunreinigung der Wasserläufe durch Abflußwässer aus Städten und Fabriken und ihre Reinigung (das. 1889); Fadejeff, Die Unschädlichmachung der städtischen Kloakenauswürfe (deutsch von Menzel, Leipz. 1886); Jurisch, Die Verunreinigung der Gewässer (Berl. 1890); Benedict, Die A. der Fabriken (Stuttg. 1896); Burkhardt, Die A. und ihre Reinigung (Berl. 1897); Weyl, Flußverunreinigung, Klärung der A., Selbstreinigung der Flüsse (Jena 1897); Vogel, Das Kohlebreiverfahren (Berl. 1899); Schmidtmann, Gutachten, betr. Städtekanalisation und Abwässerreinigung (das. 1900); Dunbar u. Thumm, Beitrag zum derzeitigen Stande der Abwässerreinigungsfrage mit besonderer Berücksichtigung der biologischen Reinigungsverfahren (Berl. u. Münch. 1902); Fischer, Das Wasser (3. Aufl., Berl. 1902).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.