Zunge [1]

Zunge [1]

Zunge (Lingua, Glossa), beim Menschen das länliche Organ, das auf dem Boden der Mundhöhle liegt und sie bei geschlossenen Kiefern fast ganz ausfüllt (s. Tafel »Mundhöhle etc.«, Fig. 2). Ihre obere Fläche, der Rücken, ist gewölbt und zeigt hinten eine dreieckige Vertiefung, das blinde Loch, in das sich mehrere Schleimdrüsen öffnen. Die untere Fläche ist mit ihrem mittlern Teil an den Boden der Mundhöhle angewachsen und vorn durch eine Falte der Mundschleimhaut, das Zungenbändchen (frenulum linguae), so angeheftet, daß nur Spitze und Seitenränder frei sind. Der hinterste, dickste Teil der Z., die Zungenwurzel, ist am Zungenbein (s. unten) befestigt, und dieses steht durch Muskeln und Bänder wieder mit dem Kehlkopf in Verbindung. In der Mittellinie der Z. ist eine Art senkrechter Scheidewand aus Sehnenfasern vorhanden, der Zungenknorpel; vorwaltend besteht jedoch die Z. aus Muskelfasern, zahlreichen Nerven und Gefäßen. Die Muskelfasern sind in allen Richtungen angeordnet und bedingen dadurch die überaus große Beweglichkeit der Z. sowie die Fähigkeit, ihre Gestalt auf mannigfaltige Weise zu verändern, sich zu wölben, nach rechts und links zu biegen, die Spitze zu krümmen, hervorzustrecken etc. Auf der sehr dicken Zungenhaut, einer Fortsetzung der Mundschleimhaut, stehen viele Hervorragungen, die Zungen- oder Geschmackswärzchen (papilla linguae s.gustus). Von diesen sind die umwallten Papillen (papillae circumvallatae) mit den eigentlichen Geschmacksorganen, den Schmeckbechern, d. h. becherähnlichen Organen voll stabförmiger Nervenendzellen, ausgestattet, an welche die Zweige der Geschmacksnerven (nervus glossopharyngeus) herantreten. Die gesamte Oberfläche der Z. ist von einem zarten Oberhäutchen überzogen; verdickt sich dies erheblich, so bildet sich der weißliche Belag der belegten Z., der durch Mundschleim und Speisereste (die sich in den zahlreichen Vertiefungen zwischen den Papillen einlagern und die Entwickelungen von Fäulnispilzen begünstigen) noch vergrößert wird. Außerdem enthält die Z. zahlreiche kleine Schleimdrüsen, besonders in der Gegend der Zungenwurzel. Bei der Verdauung wirkt übrigens nicht nur der von ihnen abgesonderte Schleim, sondern auch der Umstand mit, daß die Z. die Bissen immer wieder zwischen die Zähne schiebt und ihnen schließlich die Form gibt, in der sie leicht verschluckt werden können. Stark beteiligt ist die Z. beim Sprechen, da manche Laute ohne ihre Beihilfe gar nicht hervorgebracht werden können. (Vgl. Lautlehre und die Abbildungen bei Art. »Sprache«). Bei den Fischen besteht die Z. nur aus einer nicht sehr beträchtlichen Erhebung des Mundhöhlenbodens; bei den Amphibien ist sie häufig dick, vorn befestigt, dagegen mit ihrem hintern zweilappigen Teile beweglich und vorstreckbar; bei den Reptilien ist sie häufig schmal, vorn zweispitzig verhornt und aus einer besondern Scheide vorschnellbar, aber auch breit und fest; ähnlich verhält sie sich bei den Vögeln, während sie bei den Säugetieren meist der des Menschen nahekommt (s. die genannten Gruppen). – Das Zungenbein (os hyoideum) besteht bei den Säugetieren aus einem unpaaren Mittelstück (Körper) und zwei Paar seitlichen Fortsätzen (Hörnern); von letztern ist das hintere Paar klein und mit dem Kehlkopf verbunden, das vordere ansehnlicher und am Schläfenbein eingelenkt. Bei den Affen und dem Menschen verschmilzt sogar das obere Drittel des vordern Horns mit dem Schläfenbein und bildet dessen Griffelfortsatz (s. Schädel, S. 667), während der Rest oder wenigstens das zweite Drittel unverknöchert bleibt und als Ligamentum stylohyoideum die Verbindung des Zungenbeins am Griffelfortsatz unterhält. Beide Hornpaare sind bei den niedern Wirbeltieren größer und stellen die Reste des bei den Fischen noch voll entwickelten Zungenbein- und ersten Kiemenbogens dar, während der sogen. Körper, der zuweilen aus mehreren hintereinander gelegenen Teilen besteht, das unpaare Mittelstück des Zungenbeinbogens ist. Über die sogen. Z. der Insekten s. Hautflügler, S. 906, und Schmetterlinge, S. 891.

Die Krankheiten der Z. sind angeborne und dann oft Teilerscheinung andrer umfänglicher Bildungsstörungen, oder sie sind erworben und dann auch mit andern Mundkrankheiten verbunden. Die angeborne Vergrößerung der Z. (Macroglossia, Zungenvorfall, Glossocele) kommt häufig vor bei Kretins, jedoch auch bei sonst normalen und wohlgebildeten Kindern und beruht auf einer geschwulstartigen Erweiterung der Lymphgefäße der Z. (Lymphangioma), bei der die Z. unförmlich anschwillt, zwischen den Zähnen nach außen hervorragt und dadurch dem Eintrocknen und ähnlichen Schädlichkeiten ausgesetzt wird. Der Zustand kann nur durch eine Operation beseitigt werden. Entzündungen der Z. kommen vor vom leichten Katarrh (Epithelwucherung), der belegten Z., die Verdauungsstörungen und Magenkatarrhe begleitet, bis zu schweren diphtherischen Zerstörungen, die sich vom Gaumen und Kehldeckel zuweilen auf den Zungengrund fortsetzen. Der krankhaft vermehrte Zungenbelag findet sich besonders reichlich bei Erkrankungen des Mundes und der Verdauungsorgane, ferner bei fieberhaften Krankheiten nach andern Leiden, bei denen die Speisenaufnahme und damit die Zungenbewegungen und die Speichelabsonderung vermindert sind. Er besteht aus abgestoßenen Epithelzellen, Speiseresten und massenhaften Bakterien. Bei manchen Krankheiten hat die Ausbreitung des Zungenbelags etwas einigermaßen Charakteristisches, so ist bei Typhus häufig ein Dreieck an der Zungenspitze frei von Belag. Bei Scharlach stößt sich der Belag unter starker Schwellung und Rötung der Zungenwärzchen ab, wodurch die sogen. Himbeerzunge entsteht. Die Diphtherie der Z. ist nur Begleiterscheinung der Rachendiphtherie. Tiefere Entzündungen der Z. entstehen zuweilen durch Verletzungen, namentlich Bißwunden, die bei tobsüchtigen Geisteskranken nicht selten sind; ferner durch syphilitische Ansteckung, die an der Z. oberflächliche kleine Geschwürchen, auch tiefe Einkerbungen und Risse (Rhagaden) hervorbringt und oft noch nach Ablauf aller entzündlichen Prozesse an dem glatten Schwunde des papillenreichen Zungenrückens erkennbar ist. Ein schwarzer Zungenbelag (Schwarze Z., Haarzunge), der auf chronischer Entzündung der Papillen beruht und erhebliche Beschwerden verursachen kann, wird mit Höllensteinlösung oder alkoholischer Salizylsäurelösungbehandelt. Durch Leukoplakie (s. d.) entsteht die sogen. Landkartenzunge. Sehr selten ist die Tuberkulose der Z., die in Form flacher Geschwüre auftritt. Das schwerste Übel, der Zungenkrebs, hat den Charakter des fressenden Geschwüres, beginnt an der Spitze oder den Rändern als derber Knoten (Kankröid), der ausbricht und sich oft schnell auf die Lymphdrüsen des Halses und den Kehlkopf ausbreitet. Hierbei ist so früh wie irgend möglich operative Entfernung des verdächtigen Knötchens geboten. Erstreckt sich das Zungenbändchen zu weit nach vorn, so daß die Beweglichkeit der Z. beeinträchtigt wird, so macht man einen Schnitt in das Zungenbändchen (Zungenlösung). S. auch Froschgeschwulst. Vgl. Butlin, Die Krankheiten der Z. (deutsch, Wien 1886); Rosenthal, Die Z. und ihre Begleiterscheinungen bei Krankheiten (Berl. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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