Lautlehre

Lautlehre

Lautlehre (Phonologie, Phonetik) zerfällt in zwei Teile: die Lautphysiologie und die Lautgeschichte.

1. Die Lautphysiologie oder allgemeine L. ist die Lehre von der Erzeugung der Sprachlaute (Vokale und Konsonanten) in den menschlichen Stimmwerkzeugen, die erst in der neuesten Zeit durch die von der Erfindung des Kehlkopfspiegels unterstützten Forschungen der Physiologen (Brücke, Helmholtz, Czermak, Merkel u.a.) und die daran sich knüpfenden Untersuchungen der Sprachforscher (Ellis, Sweet, Sievers, Techmer, Bell, Storm, Lundell, Viëtor u.a.) eine glänzende Förderung und wissenschaftliche Vertiefung erfahren hat. Das menschliche Sprachorgan ist ein Instrument, das zum Tönen gebracht wird, indem eine aus den Lungen entsendete Luftsäule durch den Kehlkopf hinausgetrieben wird, wo sie vermittelst der Schwingungen der im Kehlkopf befindlichen Stimmbänder zum Tönen gebracht werden kann und dann beim Durchgang durch die Mundhöhle durch Zunge, Zähne, Mundstellung etc. näher individualisiert wird, ähnlich wie die Verschiedenheit des Ansatzrohres bei der Posaune, Trompete, Flöte etc. dem Ton eine verschiedene Färbung gibt. In der mehrlautigen Silbe findet eine Abstufung der Schallstärke statt, bei der stets ein Laut dominiert. Er heißt der Sonant (Selbstlauter) der Silbe, die andern Laute heißen die Konsonanten (Mitlauter). Die Fähigkeit, Sonant zu sein, haben nicht nur die Vokale, sondern auch Laute, die man in der vulgären Grammatik schlechthin zu den Konsonanten rechnet, wie n, m, l, r, z. B. spricht man gewöhnlich hatten, handelt als hattn, handlt aus, wobei n und l in bezug auf die Silbenbildung dieselbe Funktion haben wie z. B. e in hatte. Unter den Vokalen erscheinen namentlich i und u oft in der doppelten Funktion, und man nennt die konsonantischen i und u (j, w) auch Semivokales, Halbvokale. Nach dem akustischen Gesamtwert teilt man die Laute ein in Sonorlaute, die in Vokale (z. B. a, e), Nasale (z. B. n) und Liquidä (r und l) zerfallen, und in Geräuschlaute, die in Verschluß- oder Explosivlaute (wofür weniger gut und jetzt veraltend auch Mutae), z. B. t, d, k, und Reibelaute oder Frikative oder Spiranten, z. B. f, f, zerfallen. Nach der Kehlkopfartikulation zerlegen sich die Laute in stimmhafte (tönende), z. B. a, j, b, und stimmlose (tonlose), z. B. p, f. Jene entstehen, wenn die Stimmritze nicht weit geöffnet, sondern so weit verengert ist, daß die Stimmbänder in rhythmische Schwingungen geraten. Ferner nach den Verengungsgraden der Mundhöhle: Laute mit Mundöffnung, wobei entweder eine schallbildende Enge im Mund vorhanden ist, wie z. B. bei den Reibelauten, oder keine vorhanden ist, wie z. B. bei den sonantischen Vokalen oder bei h, und Laute mit Mundverschluß, wobei entweder Mund- und Nasenraum nach außen abgesperrt sind, wie bei t, d, oder nur der Mundraum, wie bei m, n. Anderseits nach der Beteiligung des Nasenraums kommen drei Fälle in Betracht: nur der Nasenraum steht offen, z. B. bei n, m; Nasen- und Mundraum stehen offen, was bei den nasalierten Lauten, z. B. französisch ou, der Fall ist; nur der Mundraum wird geöffnet (reine Mundlaute), z. B. a, r, s. Nach der Stärke der Exspiration unterscheidet man Fortes (z. B. t, f) und Lenes (z. B. d, w), eine Einteilung, die ungefähr mit der volkstümlichen Einteilung in harte und weiche Konsonanten zusammenfällt (jedoch nicht immer mit dem Unterschied von stimmlos und stimmhaft, da z. B. die Lenis d in Deutschland teils stimmhaft, teils stimmlos gesprochen wird); statt Verschlußfortes (z. B. t) wird auch Tenues, statt Verschlußlenes (z. B. d) auch Mediae gesagt; nach der Dauer der Exspiration hingegen Momentanlaute, z. B. t, d, und Dauerlaute (Continuae), z. B. a, r, f. Endlich ist noch die Einteilung nach der Artikulationsstelle hervorzuheben: 1) Labiale oder Lippenlaute, wie p, m, von denen die Labiodentalen, wie t, eine Abart sind; 2) Dentale oder Zahnlaute, wie t, s, zu denen auch die Interdentalen, wie engl. th, neugriech. ϑ, gehören; 3) Linguale oder Zerebrale, bei denen der vordere Zungensaum nach dem Gaumendach auf- und zurückgebogen ist, wie zum Teil bei dem engl. r; 4) Gutturale, die in Palatale, z. B. k in »Kind«, und Velare, z. B. k in »Kunst«, zerfallen; bei jenen artikuliert der mittlere Teil des Zungenrückens gegen den harten Gaumen, bei diesen der hintere Teil des Zungenrückens gegen den weichen Gaumen; 5) Laterale, zu denen namentlich die l-Laute gehören, bei denen die Engen zwischen den Seitenrändern der Zunge und den Backenzähnen liegen; die Dentalen, Lingualen und Gutturalen faßt man unter dem Namen Linguopalatale zusammen. Im einzelnen ist noch folgendes hervorzuheben: die r- und l-Laute werden unter dem Namen Liquidae, wofür minder gut Zitterlaute, zusammengefaßt (die Alten rechneten auch m und n zu den Liquidae), die s- und sch-Laute unter dem Namen Zischlaute oder Sibilanten zusammengefaßt; Verschlußlaute, denen sich ein h anfügt, heißen Aspiratae, es gibt Tenues aspiratae, wie kh, th (unsre deutschen k, t, p, z. B. in »Kater«, werden im größten Teil von Deutschland nicht als reine Tenues, sondern als Tenues aspiratae gesprochen), und Mediae aspiratae, wie sanskrit gh, dh; Verschlußlaute dagegen, denen sich die gleichartige Spirans anfügt, Affricatae, z. B. ts (z), pf. Die landläufigen Schriftarten (Alphabete) vermögen niemals die feinern Schattierungen der Aussprache zum Ausdruck zu bringen, wie denn die geschriebene Sprache in lautlicher Beziehung stets nur als eine rohe Umrißzeichnung, nicht als eine Photographie der gesprochenen Sprache anzusehen ist. Die Wissenschaft braucht freilich genauere Bezeichnung, und sie hilft sich dadurch, daß sie den lateinischen Buchstaben diakritische Zeichen anhängt (z. B. ẹ für geschlossenes, dem i näher liegendes e, ę für offenes, dem a näher liegendes e, ḷ für das l in »handlt«, s. oben). Um alle in irgend einer Sprache vorkommenden Laute gleichmäßig zu bezeichnen, ist neuerdings teils von Sprachforschern, wie Lepsius, Sweet, Ellis, dem Prinzen L. Bonaparte u.a., und von Physiologen, wie Brücke, ein »allgemeines linguistisches Alphabet« in Vorschlag gebracht worden, das aus den gewöhnlichen Buchstaben mit beigefügten diakritischen Zeichen besteht. Doch gehen die verschiedenen Systeme, von denen z. B. dasjenige von Sweet 125, das von dem Prinzen Bonaparte sogar 390 verschiedene Laute bezeichnet, stark auseinander, und keins hat allgemeinere Anerkennung gefunden. Vgl. Brücke, Grundzüge der Physiologie und Systematik der Sprachlaute (2. Aufl., Wien 1876); Sievers, Grundzüge der Phonetik (5. Aufl., das. 1901), und Phonetik in Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«, Bd. 1, S. 282 ff. (2. Aufl., Straßb. 1897); Techmer, Phonetik (Leipz. 1880, 2 Bde.); Trautmann, Die Sprachlaute (das. 1884); Viëtor, Elemente der Phonetik und Orthoepic des Deutschen, Englischen und Französischen (5. Aufl., Heilbr. 1904); Bremer, Deutsche Phonetik (Leipz. 1893).

II. Die Lautgeschichte oder historische L. geht darauf aus, die in der Geschichte der Sprachen hervortretenden Lautveränderungen durch die Methode der historischen und vergleichenden Grammatik nachzuweisen und allgemeine Gesetze des Lautwandels. die sogen. Lautgesetze, aufzustellen. Namentlich in diesem Sinne wird die L. von allen Sprachforschern der Gegenwart sehr eifrig betrieben. Sprach- und Naturforschung reichen sich aber in der L. die Hand; während die immer noch etwas weiten Einteilungen der Lautphysiologen durch die präzisen Ergebnisse der Sprachwissenschaft größere Bestimmtheit erlangen, erhalten anderseits die rein empirisch gefundenen Tatsachen der Lautgeschichte durch die physiologische L. ihre Erklärung. Übrigens hat jede Sprache ihre besondern Lautgesetze, und in derselben Sprache wieder wirken in verschiedenen Zeiten verschiedene Gesetze. Der sogen. Wohllaut, von dem sich der Laie gewöhnlich die Lautveränderungen abhängig denkt, spielt bei diesen tatsächlich nur eine verschwindend kleine Rolle. Der Wohllaut ist etwas durchaus Subjektives. Jeder hält das für wohlklingend, für euphonisch, womit er durch langjährige Gewohnheit vertraut ist, und der Hottentotte ist ebenso fest von dem Wohlklang seiner Schnalzlaute überzeugt wie wir von der Schönheit unsrer Konsonanten, obschon der Ausländer deutsche Wörter, wie Holzpflock, Strolchs u. dgl., abscheulich und unaussprechbar findet. Vielmehr beruht die lautliche wie alle übrige Veränderlichkeit der Sprache auf denselben nicht kurz zu definierenden Bedingungen, auf Grund deren jede psychophysische Tätigkeit der Menschen und der Völker fortwährendem Wandel unterworfen ist. S. Sprache und Sprachwissenschaft.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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