Spitzen

Spitzen

Spitzen (hierzu Tafel »Spitzen I u. II«), niederdeutsch Kant, Kante; franz: dentelle (Zähnchen), point (Punkt, Stich); ital.: merletto (Zäckchen), punto (Punkt, Stich, Spitze); engl.: point (Spitze), lace (Litze), Produkte der Textilkunst aus allen Arten von Gespinsten, deren Vorläufer aus verbundenen Ketten- oder Schußfäden (s. Franse und Posamenten) bis ins Altertum zurückgehen, woran sich im Mittelalter solche aus Netzwerk (vgl. die Artikel »Filet, Gipüre, Netzarbeiten«) anschließen. Hieraus und im Zusammenhange mit dem Leinendurchbruch (s. d., vgl. auch Hohlsaum, Hardanger Arbeit, Madeirastickereien, Renaissancestickerei) entwickelten sich im 16. Jahrh. die S. von Italien aus als selbständige Erzeugnisse: vornehmlich in Leinenfäden genäht (Nähspitzen), geklöppelt (Klöppelspitzen); später auch in Leinen- und Baumwollengarn gewebt (Maschinenspitzen). Blonden sind qeklöppelte oder gewebte Seidenspitzen. In gleicher Technik werden S. aus Gold- und Silberfäden (s. Goldspitzen) hergestellt. Seidene, leinene, baumwollene und wollene S. entstehen auch durch Häkeln (s. d.), Knüpfen (s. Macramé) und Stricken (s. d.). S. in Handstickerei sind seltener; wohl aber haben Ätz- oder Luftspitzen durch Maschinenstickerei in neuerer Zeit weite Verbreitung gefunden. Applizierte S. entstehen durch Aufnähen genähter oder geklöppelter Muster auf einen vorhandenen genähten, geklöppelten oder gewebten Maschen- oder Tüllgrund. Die vielseitigen Bezeichnungen der S. (vgl. Point und Punto) gehen zum Teil von der Technik, anderseits von ihrem Ursprungsland aus, daher erklären sich bei ältern Arten die italienischen Namen, für die später französische, niederländische, englische oder deutsche allgemein wurden. – Die Technik der eigentlichen Nähspitze (franz. point à l'aiguille; engl. pointed needle-work) beruht in ihren Anfängen auf dem Leinendurchbruch, der stilistisch dem Hohlsaum entspricht, so daß der einfache Durchbruch den italienischen punto tirato, der doppelte den punto tagliato darstellt. Beide Arten werden auch französisch point coupé (Tafel I, Fig. 1) genannt, weil der Durchbruch ausgeschnitten sein kann. Solche Ausziehspitzen gingen zuerst mit der Leinenstickerei Hand in Hand (Tafel I, Fig. 7), bis sich innerhalb der quadratischen Ausschnitte auf Grund von gespannten Durchgangsfäden die Netzspitze oder der italienische punto di reticella entwickelte, der seit dem 17. Jahrh. auch als Klöppelspitze und in vollerer Gestaltung (s. Solspitzen) als filetartige Arbeit erscheint (Tafel I, Fig. 4), in welcher Ausführung sein Ursprung auf Spanien schließen läßt. Mit der Steigerung des Bedarfs an S. zur Zeit der Renaissance machte sich die Technik vom Leinen grund insofern unabhängig, als man das quadratische Vorwerk für die Reticellaspitze auf Pergament herrichtete, womit der Musterung der genähten Spitze die volle Freiheit für die weitere Entwickelung gegeben wurde: sie führte von der geometrischen Formengebung zur bandartigen Rankenbildung im Stile der Zeit und durch die dazwischen notwendigen Verbindungsstege (brides) waren die Vorläufer zur Netzgrundspitze vorhanden; gleichzeitig mit der künstlerisch entwickeltern Technik gewannen die S. auch an Bedeutung für die Tracht. Die Verbreitung von Spitzenmustern geschah seit dem 16. Jahrh. durch die in Deutschland, Italien und Spanien zahlreich erschienenen Model- oder Spitzenbücher; der Hauptsitz der Industrie war indessen zunächst in Italien und Spanien: vor allem blieb Venedig bis zum letzten Drittel des 17. Jahrh. hierin die tonangebende Modestadt Europas. Der ursprünglich noch flach gehaltene italienische und spanische punto in aria (Tafel I, Fig. 3 u. 11) erfuhr in Venedig im punto a rilievo (franz. point de Venise) die edelste Gestaltung in vollendetster Technik (Tafel I, Fig. 12). Die Berühmtheit dieser mit allen Feinheiten der à jour-Arbeit ausgestatteten Reliefspitze veranlaßte Colbert 1664, venezianische Arbeiterinnen nach Frankreich kommen zu lassen, und es entstanden dort eine Reihe von staatlichen Werkstätten, in denen der neue point de France (Tafel I, Fig. 2) nach italienischen Vorlagen gearbeitet wurde: zunächst gab der point de rose, die feinste Art des point de Venise, die besten technischen Anhaltspunkte. Danach bildete sich besonders in Alençon und Argentan eine neue eigne vornehme Spitzenart heraus, die ganz im Stil Louis XIV. mit Anklängen an das italienische Barock erscheint (Tafel I, Fig. 2), und mit dieser Gattung von Ziernetzspitzen, deren mühsame Anfertigung durch zwölf aufeinanderfolgende Arbeitsweisen in einzelnen Teilen geschieht, hatten jene Nadelarbeiten technisch und künstlerisch, als duftig sich entfaltende ornamentale Flächen, ihren Höhepunkt erreicht, woran übrigens auch gleichzeitig die Klöppelarbeiten teilnehmen. Brüsseler Nähspitzen treten erst mit dem 18. Jahrh. in den Vordergrund (Tafel I, Fig. 6). Die Erzeugnisse von Argentan (Tafel I, Fig. 5) sind in der genähten Rokokospitze (Stil Louis XV.) dem point d'Alençon nahe verwandt; besonders charakteristisch für letztern erscheinen dann am Ende des 18. Jahrh., im Stile Louis XVI., die Nähspitzen mit Streublümchen über einem zackigen Fuß, den eine schmale Ranke begleitet (Tafel I, Fig. 10), in gleicher Art, wie sie früher in Burano erzeugt wurden (Tafel I, Fig. 9). Als dann um 1800 die Bobbinetmaschine zur Herstellung des gewebten Tüllgrundes erfunden war, wurden die getrennt gearbeiteten Formen aufgesetzt, oder man stellte Durchzugmuster her. Mit der Neubelebung des Kunstgewerbes, seit den 1860er Jahren, brachte die Nähspitze in den italienischen und österreichischen Erzeugnissen eine Wiederholung der alten Renaissancemuster, während die französischen und belgischen mehr den Charakter der Rokokotypen und des Naturalismus bewahrten. In der Ausbildung moderner Kunstformen im Bereiche der Nähspitzen hat Wien die ersten Erfolge errungen, denen solche in Schlesien (Schmiedeberg und Hirschberg) folgten (Tafel I, Fig. 8). – Die Technik der Klöppelspitzen (franz. points an fuseau; ital. dentelli a piombini; engl. pillow laces) hat infolge ihrer vielseitigen Gestaltung und leichtern persönlichen Handhabung eine schnellere und weitere Verbreitung gefunden als diejenige der Nähspitzen, was die Feststellung des Ursprungs dieser Erzeugnisse schwieriger erscheinen läßt. Zum Klöppeln bedarf man eines Polsters (Klöppelsacks), das im Erzgebirge walzenförmig und drehbar, in Belgien und Frankreich viereckig und flach gewölbt ist; auf dem Sack liegt der Klöppelbrief, ein Streifen Papier, worauf das Muster in Nadelstichen vorgezeichnet ist.^

Die Klöppel sind etwa 10 cm lange Holzstäbchen, auf denen der zu verarbeitende Zwirn aufgewickelt (und im Erzgebirge durch eine übergeschobene Papierhülse geschützt) ist; die Löcher des Musterbriefes werden bei der Arbeit mit Nadeln besteckt und die Fäden durch Hin- und Herwerfen der Klöppel, die von der Walze herabhängen oder auf dem belgischen Kissen liegen, zwischen den Nadeln verflochten. In dem Maße, wie die Arbeit fortschreitet, werden aus der fertigen Spitze die Nadeln ausgezogen und in die folgenden offenen Löcher des Briefes gesteckt. Ist die Spitze Ellenware, so kann die Arbeit auf der rotierenden Walze beliebig oft rundherum fortgehen. Auf diese Weise entstehen durch sogen. Schläge mit je einem Paar von Klöppeln, deren Zahl sich bis zu 40 und mehr Paaren, selbst bei weniger kunstvollen Stücken, steigern kann, Grund und Muster zugleich, die wie offene und dichte Gewebeflächen erscheinen und nach bestimmten Arten der Fadenverschlingung zu unterscheiden sind. Die Flechtspitze, als einfachste und älteste Klöppelei, mit zwei Klöppelpaaren, ist seit Ende des 15. Jahrh. in Italien, Spanien, in den Niederlanden und in Deutschland als lose Zacke und Zwischensatz heimisch. Die Formenschlagspitze, mit breitern Einzelheiten, stellt Muster in Art der genähten Reticellaspitze dar; die dazwischen erscheinenden Blättchen (das Haber- oder Gerstenkorn) sind typisch für Klöppelarbeiten aus Genua und Rußland (Tafel II, Fig. 7). Die Leinenschlagspitze tritt mit der Aufnahme bandartiger Rankenmotive in den Vordergrund, ihren Ursprung soll sie im 17. Jahrh. in Flandern, Brabant und Schleswig haben; im Erzgebirge (als Torchonspitze) und in Rußland (Tafel II, Fig. 7) hat sie sich in einfachen Mustern bis heute erhalten. Die Bezeichnung derselben Art als Leinenrißspitzen, wenn die Bandflächen dicht aneinander stoßen (Tafel II, Fig. 3), greift schon in die Leinenschlagspitze mit Netzgrund über, deren Musterung sich den gleichzeitigen Nähspitzen Italiens anschließt, wovon eine Art für Mailänder Arbeit angesehen wird: zu Voluten aufgerollte wellig gelegte Ranken endigen in Zweige und Blüten, die teilweise mit Netzfüllungen durchbrochen sind, worin die Reliefspitze Venedigs vorbildlich gewesen zu sein scheint, der das Rankenmuster aus gewebter Litze (point lace) folgte (Tafel II, Fig. 5). In der großen Gruppe von Grundnetz- oder Ziernetzspitzen des 17. und 18. Jahrh., in der Musterung den Nähspitzen ihrer Zeit verwandt, fallen zunächst die niederländischen Erzeugnisse auf, die in England und im Erzgebirge (durch Barbara Uttmann eingeführt) nachgeahmt wurden. Mecheln (das spätere Malines) wird zu dieser Zeit als Hauptsitz der Industrie bezeichnet: ihre Klöppelspitzen zeigen gewöhnlich einen stärkern Faden als Umrißlinie des Musters, wodurch es sich als geschlossene Zeichnung vorteilhaft abhebt (Tafel II, Fig. 1), während die Erzeugnisse von Binche und Valenciennes (Tafel II, Fig. 2) die feinsten und zartesten Spitzenflächen darstellen, die jemals geklöppelt wurden. In solchen malerisch schimmernden Weichheiten, die natürlich erst bei größern Kragen, Volants, Albenspitzen, Taufdecken etc. jener Zeit zur vollen Geltung kommen, drückt sich so ganz das Wesen niederländischer Kunst aus: bis in alle Feinheiten der Einzelheiten gleichsam wie eine Radierung offenbart; woran indessen doch wohl Italien und Frankreich Anteil haben dürften, wenn man sich hierzu den venezianischen punto a rilievo (Tafel I, Fig. 12) und seine erste Nachahmung in Alençon (Tafel I, Fig. 2) vergegenwärtigt, die auch das Bestreben zeigen, Blätter und Blütenformen nach außen hin kräftiger zu gestalten, um dann bei gewisser Durchsichtigkeit der innern Flächen die organische Entwickelung aller pflanzlichen Motive künstlerisch zu betonen. Dieser schönste Typus niederländischer S., woran auch Brüssel in vereinigter Klöppel- und Nadelarbeit stark beteiligt ist, liegt noch dem sogen. Point d'Angleterre zugrunde, der zuerst in seinem Ursprungsland für England und dann hier selbst (vielleicht in Honiton) im ersten Drittel des 18. Jahrh. erzeugt wurde und später für alle möglichen Arten von Klöppelspitzen in Spanien, Italien, Frankreich, Nord- und Süddeutschland technisch und künstlerisch Anregung gab. Das 19. Jahrh., in dem die S. von Bayeux, Le Puy, Chantilly (Tafel II, Fig. 8), Malta (Tafel II, Fig. 11), unter den wenigen orientalischen Erzeugnissen die Smyrnaspitze (Tafel II, Fig. 10) bemerkenswert sind, wird das Gebiet dieser Industrie wesentlich erweitert durch die Maschinenspitzen (Tafel II. Fig. 9), die auf Klöppelmaschinen, Wirkstühlen oder Bobbinetmaschinen hergestellt werden. Am wichtigsten ist die Klöppelmaschine (s. d.) und die Spitzenmaschine (s. d.). Vgl. Palliser, History of lace (4. Aufl., Lond. 1902); Séguin, La dentelle. Histoire, description, fabrication, bibliographie (Par. 1875); Dreger, Entwickelungsgeschichte der Spitze etc. (Wien 1901) und Die Wiener Spitzenausstellung 1906 (Leipz. 1907); Heiden, Die Berliner Spitzenausstellung 1905 (Plauen 1906); Ilg, Geschichte und Terminologie der alten S. (Wien 1876); v. Braunmühl, Technik und Entwickelung der S. (in der Zeitschrift »Kunst und Gewerbe«, Nürnb. 1882); Raßmüssen, Klöppelbuch (Kopenh. 1897); Jamnig und Richter, Technik der geklöppelten Spitze (Wien 1886); Frauberger, Handbuch der Spitzenkunde (Leipz. 1894); Lipperheide, Das Spitzenklöppeln (Berl. 1898); Fischer, Technologische Studien im sächsischen Erzgebirge (Leipz. 1878); Gorbunoff, Über russische Spitzenindustrie (Wien 1886); Voshage, Das Spitzenklöppeln (Leipz. 1895); Kraft, Studien über die Bobbinetspitzenherstellung (Berl. 1892); B. v. Jurie, S. und ihre Charakteristik (das. 1907); Dietrich, Die Spitzenindustrie in Belgien und Frankreich zu Ende des 19. Jahrhunderts (Leipz. 1900); Hans Sibmacher, Stick- und Musterbuch (nach der Ausgabe von 1597 hrsg. vom Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, 3. Aufl., das. 1882, und von Wasmuth, Berl. 1885; nach der 4. Ausgabe von 1604 hrsg. von Georgens, das. 1874); W. Hoffmann, Spitzenmusterbuch (nach der Ausgabe von 1607 hrsg. vom Österreichischen Museum, Wien 1876) und Originalstickmuster der Renaissance (das. 1874). Auch gaben Cocheris in Paris eine Reihe seltener Spitzenmusterbücher aus der Bibliothèque Mazarin, Eitelberger 50 Blatt der schönsten Muster aus deutschen und italienischen Musterbüchern des 16. Jahrh. (Wien 1874) und Wasmuth in Berlin eine Anzahl von italienischen, französischen und deutschen Musterbüchern (von Vecellio, Parasole, Ciotti, Bretschneider u. a.) in Faksimilenabbildungen heraus.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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