Bürger [1]

Bürger [1]

Bürger, Angehöriger eines Gemeinwesens, insbes. Staatsbürger, Gemeindebürger. Man spricht auch von akademischen Bürgern, d. h. Studierenden einer Hochschule. Der Ursprung des heutigen Bürgertums fällt in das 9. Jahrh., wo man die größte Sicherheit in befestigten Ortschaften erblickte. Die Verteidiger der befestigten Orte (castra) nannte man, wie die Dienstmannen der Burgen, B., burgenses. Später gelangten die durch ihre Mauern gesicherten Städtebewohner zu einer dem bisher allein mächtigen Adel gegenüber selbständigen Macht. Seit dieser Zeit war V. Ehrenname jedes Städtebewohners, der an den städtischen Rechten Anteil hatte. Sobald die Städtebewohner zu dieser Bedeutung gelangt waren, bildeten sich unter ihnen verschiedene Klassen. Zur ersten Klasse erhoben sich die sogen. vollberechtigten Einwohner, die Ratsmänner, Handelsherren und Mitglieder der höhern Zünfte. Ihnen, den Bürgern, standen alle Städtebewohner, deren Erwerbszweig das Recht der Zunftfähigkeit noch nicht erworben hatte, als bloße Handwerker gegenüber. Aber auch noch dann, als sich diese zurückgesetzten Gewerbe nicht nur das Zunftrecht, sondern durch offenen Aufruhr gegen die ratsfähigen Geschlechter im Mittelalter auch die Ratsfähigkeit verschafft hatten, machten sich, obwohl alle berechtigten Mitglieder einer Stadtgemeinde B. hießen, gleichwohl noch engere Bedeutungen des Wortes B. geltend. Zunächst unterschied man an einigen Orten B. als Hauseigentümer von den Handwerkern und zog zwischen den Gerechtsamen beider strenge Grenzen. Noch enger wurde der Begriff B. durch die Gegensätze der Schutzverwandten, Beisitzer, Beisassen oder bloßen Einwohner. Solche Schutzverwandte galten als unvollkommene B., und der eigentliche Charakter des Bürgers kam nur den vollberechtigten Mitgliedern der Stadtgemeinde zu. Diese Schutzverwandten standen unter städtischer Obrigkeit und Gerichtsbarkeit, hatten aber kein Stimm recht in städtischen Angelegenheiten, waren unfähig zu städtischen Ämtern und durften nicht die volle bürgerliche Nahrung, sondern nur gewisse Gewerbe treiben. Auch dadurch, daß gewisse Vorrechte, z. B. die Fähigkeit, liegende Gründe zu besitzen oder gewisse Gewerbe auszuüben, in den Städten nur den Bürgern zukamen, entstand eine neue Veranlassung, daß Personen, die nach ihrem Stande der Aufnahme in der Stadt nicht bedurft hätten, um das Bürgerrecht nachsuchten. Auch diese hatten nur ein unvollkommenes Bürgerrecht und hießen Aus-o der Pfahlbürger. Außerdem gab es noch Gras- oder Feldbürger, die in mm Stadtgebiet gehörigen Dörfern wohnten, und Glevenbürger (von gleve, »Lanze, Spieß«), die das Bürgerrecht mit der Verpflichtung erhielten, der Stadt Kriegsdienste zu leisten.

Seit dem 16. Jahrh. bildete sich der Gedanke aus, auch die Untertanen eines Staates als eine geschlossene Gemeinschaft zu betrachten, und seitdem nennt man die vollberechtigten Untertanen des Staates Staatsbürger (s. Untertan). Ihre Rechte werden bürgerliche Ehrenrechte genannt, die durch rechtswidrige Handlungen verwirkt werden können (f. Ehrenrechte). Die B. der einzelnen Gemeinden dagegen bezeichnet man als Orts- oder Gemeindebürger, und zwar zumeist ohne Unterschied für Stadt- und Landgemeinden, wie denn auch der rechtliche Unterschied zwischen B. und Bauer vollständig verwischt worden ist (s. Bauer, S. 459). Als Staatsbürger stehen sich die Angehörigen der früher streng geschiedenen beiden Stände, Bürger- und Bauernstand, gleich, und ebenso sind die Rechtsunterschiede zwischen Bürgern und Adel fast vollständig beseitigt (s. Adel). Auch die Abstufungen innerhalb des Bürgerstandes, die Sitte und Sprachgebrauch bis in die neuere Zeit beibehalten hatten, sind nun gegenstandslos. So hat man wohl die Gewerbtreibenden in den Städten vorzugsweise als B. bezeichnet, im Gegensatze zu den Beamten, Künstlern etc. Auch unterschied man zwischen höherm und niederm Bürgerstand. In neuester Zeit suchen die Anhänger der Sozialdemokratie den Arbeiterstand zu dem Bürgerstand in einen Gegensatz zu bringen, und der »Bourgeois« wird von ihnen als der Vertreter der kapitalistischen Produktionsweise hingestellt und bekämpft. Das Staatsbürgerrecht ist jedem Staatsangehörigen gleich zugänglich. Für das Deutsche Reich ist zudem, wie in dem frühern Norddeutschen Bunde, der Grundsatz der Zug- und Niederlassungsfreiheit (Freizügigkeit) durchgeführt. Wichtige Befugnisse, die ehedem mit dem Bürgerrecht verknüpft waren, sind seitdem auf die Staats- und Reichsangehörigen ausgedehnt worden, welch letztern ein »gemeinsames Bundesindigenat« mit der Wirkung eingeräumt ist, daß sie in jedem Bundesstaat als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zam Gewerbebetrieb, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genuß aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wieder Einheimische zuzulassen sind (s. Reichsangehörigkeit).

Das Gemeindebürgerrecht hat daher in neuerer Zeit an Bedeutung erheblich verloren. Die darin enthaltenen Befugnisse waren und sind teils öffentlichrechtlicher, teils privatrechtlicher Natur. Zu den erstern gehören die Wahlfähigkeit und Wählbarkeit zu den Gemeindeämtern und das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten. Von den letztern ist noch heutzutage in manchen Gemeinden das Recht der Nutzung am Gemeindegut, soweit dieses nicht nach Statuten, Gewohnheit oder Vertrag einzelnen Klassen von Gemeindegliedern zusteht, von Bedeutung. Das Bürgerrecht legt auch Bürgerpflichten (Bürgerdienste, bürgerliche Beschwerden) auf, so die Pflicht, Gemeindeämter zu übernehmen, Gemeindedienste zu leisten und die Gemeindeabgaben (Bürgerschoß) zu entrichten. Indessen werden jetzt auch Nichtbürger zu den Gemeindeum lagen herangezogen, wofern sie nur ihren ständigen Aufenthalt in der Gemeinde haben. Erworben wird das Bürgerrecht entweder von Rechts wegen bei gegebenen gesetzlichen Voraussetzungen oder durch die Aufnahme, die von der Gemeindevertretung ausgeht. Früher pflegten wohl auch Landesherren B. ohne Mitwirkung des Rates, sogen. Gnadenbürger, zu ernennen. Fähig zur Erlangung des Bürgerrechts ist in der Regel jeder Staatsangehörige, der bestimmte gesetzliche Voraussetzungen erfüllt hat. Bei der Aufnahme wird der Name des neuen Bürgers in das Bürgerbuch (Bürgermatrikel, Bürgerrolle) eingetragen; er entrichtet für seine Aufnahme das sogen. Bürgergeld und empfängt dann den Bürgerbrief, eine Urkunde über seine Ausnahme. Personen, die sich ein besonderes Verdienst um eine Stadt erworben haben, oder die der Rat auszeichnen will, erteilt dieser das Ehrenbürgerrecht, mit dem aber regelmäßig keine Rechtswirkungen verbunden sind. Das Bürgerrecht geht durch Verzicht oder Wegfall seiner rechtlichen Voraussetzungen verloren.

Wichtig war früher der Unterschied zwischen Vollbürgern und Schutzbürgern. Schutzbürger oder Schutzverwandte (staatsbürgerliche Einwohner) waren diejenigen, die auf Grund eines Staatsgesetzes das Wohnungsrecht in der Gemeinde und deshalb in dieser ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten auszuüben und zu erfüllen hatten. Ausmärker (Forensen, Markgenossen) sind Personen, die in der Gemeinde keinen Wohnsitz, aber Grundbesitz oder sonstige dingliche Rechte haben, bezüglich deren sie an den Vorteilen und Lasten des Gemeindeverbandes Anteil nehmen. S. Bürgervermögen.

Der Ausdruck bürgerlich oder zivil wird auch gebraucht, um den Gegensatz zwischen dem Militärstand und den übrigen Staatsgenossen, ferner, um den Gegensatz zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht (Staatsrecht, Strafrecht) zu bezeichnen. Man spricht von bürgerlichem Recht oder Zivilrecht, bürgerlichem Prozeß oder Zivilprozeß. Vgl. Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte (4. Aufl., Leipz. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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