- Nihilisten
Nihilisten, Bezeichnung für die Anhänger einer in Rußland hervorgetretenen und bis in die höchsten Kreise verbreiteten Anschauungsweise, des Nihilismus. der nach der Zertrümmerung der bestehenden Gesellschaft und des Staates strebt und sozialdemokratische oder auch ganz utopistische Ziele verfolgt, nichts als gut oder verbesserungsfähig gelten läßt und daher das eigne sowie andrer Leben für wert- und zwecklos hält. Der Name kommt zuerst in Turgenjews Roman »Väter und Söhne« (1861) vor. Seinen Ursprung hat der Nihilismus hauptsächlich in den zerrütteten Zuständen des despotisch regierten Reiches mit seinem brutalen, bestechlichen Beamtentum, der Willkür der Polizei und der Unterdrückung der öffentlichen Meinung. Der Nihilismus hat die meisten Vertreter unter der Studentenschaft beiderlei Geschlechts; zur Vernichtung des Staates gilt ihnen jedes Mittel als erlaubt. Herzen, besonders aber Bakunin sachten den Haß des Volkes gegen das herrschende System an, und das Karakasowsche Attentat (1866) gegen Alexander II. war schon eine Wirkung der nihilistischen Aufreizung. Ein großer Prozeß 1874 gegen 193 Angeklagte, von denen aber bloß 19 verurteilt wurden, erwies, daß selbst Lehrer, Beamte und Edelleute N. waren. Die Leitung hatten halbgebildete junge Leute beiderlei Geschlechts, die in verschiedenen Städten »Kommunen« bildeten. Nach verschiedenen Verurteilungen und Verschickungen beschlossen die N., durch einen allgemeinen Schrecken die Werkzeuge der Regierung einzuschüchtern. Der erste Schritt auf dieser Bahn war das Attentat der Vera Sassulitsch gegen den Petersburger Stadthauptmann Trepow (5. Febr. 1878), und die unter dem Beifall des Publikums erfolgte Freisprechung der Verbrecherin durch das Geschwornengericht ermutigte die N. zu einer festen Organisation. Auf einem Kongreß in Zgierz wurde die Narodnaja Wolja (»Partei des Volkswillens«) gestiftet und ein Exekutivkomitee eingesetzt, das Todesurteile gegen mißliebige Beamte fällte und deren Vollstreckung vorbereitete, jeden Verrat mit dem Tode bestrafte und in geheimen Druckereien revolutionäre Flugschriften drucken ließ. Der in Genf erscheinende »Messager de la Volonté du peuple« war das Organ des Ausschusses. Am 16. Aug. 1878 wurde der Chef der dritten Abteilung der kaiserlichen Kanzlei, der Geheimpolizei, General Mesenzew, in Petersburg, 21. Febr. 1879 der Gouverneur Fürst Krapotkin in Charkow ermordet, 25. April auf Mesenzews Nachfolger Drentelen und 14. April 1879 von Solowjew auf den Kaiser selbst ein Attentat gemacht. Nach dem Dynamitattentat auf den kaiserlichen Zug bei Moskau 1. Dez. 1879 erfolgten 17. Febr. 1880 die Dynamitexplosion im Winterpalast und 13. März 1881 die Ermordung Alexanders II. Die Mörder wurden ergriffen und gehenkt und eine energische Verfolgung der N. ins Werk gesetzt. Dennoch wurde 25. Nov. 1882 in Odessa der Prokurator des Militärgerichts, Strelnikow, und 28. Dez. 1883 der Polizeioberst Sudeikin erschossen. Die Wühlerei hatte selbst bei Offizieren, namentlich den Polen, Erfolg. Am 13. März 1887 ward ein Anschlag auf das Leben des Kaisers und 29. Okt. 1888 bei Borki der Versuch gemacht, den Eisenbahnzug mit der kaiserlichen Familie in die Luft zu sprengen. 1902 wurde in Charkow auf den Gouverneur Fürsten Obolenski geschossen. Eine völlige Unterdrückung der N. ist wenig wahrscheinlich, da die Zustände durch die vorderhand noch unsichere neue Verfassung nicht gebessert sind. Vgl. Golowin, Der russische Nihilismus (Leipz. 1880); Thun, Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland (das. 1883); Oldenberg, Der russische Nihilismus (das. 1888); E. Bauer, Aus den Tagen der Nihilistengefahr (das. 1897); Nacht, Die revolutionäre Bewegung in Rußland (Berl. 1902).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.