- Gewerbliche Fachschulen
Gewerbliche Fachschulen, im allgemeinsten Sinne Lehranstalten, welche, das entsprechende Maß allgemeiner Schulbildung voraussetzend oder der privaten Bemühung des einzelnen Schülers anheimstellend, die besondere gewerbliche Berufsbildung der Zöglinge zu begründen oder zu fördern streben. Dazu gehören als höchste Stufe die Technischen Hochschulen (s. d.; früher meist Polytechnische Schulen, Polytechnika) und als tiefste die gewerblichen Fortbildungsschulen (s.d.). Im engern Sinne bezeichnet man als g. F. die der mittlern Stufe angehörigen Anstalten. Nur in Ausnahmefällen bereiten diese auch für die Technische Hochschule vor (die der Regel nach sich aus den als reif entlassenen Schülern der Oberrealschulen, Real- oder Humangymnasien rekrutieren); zumeist und ihrer eigentlichen Aufgabe nach arbeiten sie für die mittlern Berufsstellen des höhern Gewerbes, bilden also entweder Betriebsleiter oder Werkmeister. Solche mittlere g. F. treten entweder in der Gestalt von Fachklassen (s.d.) auf, die auf dem Unterbau einer Realschule ruhen, deren Abschluß das Recht auf den einjährigen Heerdienst verleiht, oder sie bestehen für sich und sehen in diesem Falle meist von dem Anspruch einer streng gleichmäßigen Vorbildung, besonders vom Bedinge der erworbenen Berechtigung zum einjährigen Dienst ab. Während der Typus der Fachklassen fast ganz geschwunden ist, hat die Zahl der selbständigen gewerblichen Fachschulen in den letzten Jahrzehnten mit dem großartigen Aufschwung der Weltindustrie ungemein zugenommen. Außerdem bleibt immer die Grenze zwischen Fach- und Fortbildungsschulen auf dem gewerblichen Gebiete fließend; neben den öffentlichen, von Staat und Gemeinde unterhaltenen oder wenigstens beaufsichtigten Fachschulen bestehen mancherlei private Anstalten (Innungsschulen u. a.), die sich teils der Statistik entziehen, teils, dem wechselnden Bedürfnis angepaßt, kommen und gehen. Endlich ist die staatliche Aussicht und Leitung selbst innerhalb des Deutschen Reiches so bunt und verschieden eingerichtet, daß nicht einmal die Kategorien leicht zu finden sind, unter die das rege Gewimmel zu verteilen wäre. Den Versuch, trotz aller dieser Schwierigkeiten eine brauchbare Übersicht des deutschen Fachschulwesens herzustellen, machte der auch sonst um dieses Gebiet verdiente preußische Geheimrat O. Simon (s. unten, Literatur). Er unterscheidet zehn Hauptgruppen der von ihm zusammengefaßten Fach- und Fortbildungsschulen: 1) Baugewerbe (besonders Baugewerkschulen, s. d.); 2) Metallarbeiten und Elektrotechnik (darunter die für die deutsche Industrie hervorragend wichtigen Maschinenbauschulen; außerdem zahlreiche Spezialschulen für Bronze, Eisen und Stahl, Edelmetalle, Feinmechanik, Uhrmacherei, Elektrotechnik etc. sowie Innungsschulen für Schlosser, Schmiede, Klempner etc.); 3) Holzarbeiten (auch hier zahlreiche Innungsschulen für Tischler, Drechsler, Bildhauer, Schnitzschulen und ähnliche, die, wie in der vorigen Gruppe die Schlosserschulen, mehr oder weniger dem Typus der Kunstgewerbeschulen sich nähern; Korbflechtschulen und damit verwandt Strohflechtschulen); 4) Textilgewerbe (Spinnerei, Weberei, Färberei, Appretur, Sticken, Spitzenkunst, Schneiderei etc.); 5) kompliziertere Gewerbe (Keramik und Glasindustrie, Schiffbau und Schiffahrt, Gerberei, Photographie, Musikinstrumente, Bergbau, Buchdruck und Buchsatz etc.); 6) Kunstgewerbe (s. Kunstgewerbeschulen); 7) Handelsschulen (s.d.); 8) gewerbliche Schulen für Mädchen und Frauen (große Mannigfaltigkeit und reger Aufschwung; Haushaltungsschulen); 9) gewerbliche Fortbildungsschulen als Nebenanstalten für beruflich beschäftigte Jünglinge; 10) Fortbildungs- und Gewerbeschulen mit Vollunterricht (einzeln verbunden mit Lehrwerkstätten, die jedoch in Deutschland leider noch weniger verbreitet sind als in Österreich, Frankreich etc.). Es ist leicht zu sehen, daß diese Übersicht noch sehr erweitert werden könnte, je nachdem man den Begriff des Gewerbes enger oder weiter faßt, wie denn z. B. die landwirtschaftlichen Fachschulen (s. Landwirtschaftliche Lehranstalten; Ackerbau, Forstwirtschaft, Wiesenbau, Obst- und Gartenbau, Obstverwertung, Molkerei, Geflügelzucht etc.) darin noch ganz fehlen. Ergänzend handelt Simon noch von der Fortbildung selbständiger Gewerbtreibender (Vereinsanstalten, Gewerbemuseen, offene Zeichensäle, Meisterkurse, Versuchswerkstätten etc.). Das ganze Gebiet des modernen Kulturbestrebens, das mehr oder weniger streng unter das Stichwort g. F. fällt, macht demnach den Eindruck einer heftigen Gärung, die einstweilen noch der übersichtlichen Ordnung widerstrebt. Aber es ist anderseits anzuerkennen, daß gerade Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit hier wesentliche Merkmale sind, die zu verwischen, auch wenn sie es vermöchten, die öffentlichen Autoritäten sich hüten sollen. Wichtigste Aufgabe der staatlichen Aussicht ist jedenfalls, scharf den Gang des gewerblichen Lebens zu beobachten und überall da, wo gesunde Keime sich regen, hilfreiche Hand durch Gelegenheiten zu guter sachlicher Vorbildung zu gewähren, dagegen tunlichst wenig bevormundend einzugreifen. Daß diese Erkenntnis mehr und mehr bei den Regierungen der deutschen Staaten durchgedrungen und leitend geworden, ist eine erfreuliche Tatsache. Sie läßt hoffen, daß mehr und mehr Einverständnis und heilsamer Austausch zwischen den einzelnen Staatsgebieten wie zwischen den verschiedenen Berufsgruppen sich herausstellen werde. Schon jetzt ist dies wahrzunehmen. Während noch bis vor kurzem oft beklagt ward, daß Preußen in dieser wichtigen Angelegenheit hinter andern deutschen Staaten (Bayern, Württemberg, Baden, Sachsen) zurückgeblieben war, schuldet man gegenwärtig gerade der preußischen Verwaltung das Zeugnis kräftigen und zielbewußten Vorwärtsdrängens. Insgesamt hob sich von 1895–1902 die Zahl der gewerblichen Schulen in Preußen von 1190 auf 1684, die der Schüler von 124,424 auf 203,250. Überall im Deutschen Reiche sieht man das gewerbliche Vereinsleben, für das die Landesgrenzen keine trennenden Schranken mehr bedeuten, von dem Bewußtsein durchdrungen, daß es für die nationalen Erfolge auf dem Gebiete des Gewerbelebens kaum eine wichtigere Frage gibt als die der tüchtigen, mit den Ansprüchen der Gegenwart fortschreitenden Fachbildung der Leiter und Arbeiter in Industrie und Handwerk. – Ähnliches Streben und lehrreiche Analogien findet man in allen Kulturländern, und es ist wichtig, auch das, was draußen vorgeht, sorgsam zu beobachten. Hier nur einige andeutende Striche. – Erhebliche, für Industrie und Gewerbe sehr ersprießliche Erfolge erzielte Österreich durch sein gewerbliches Fachschulwesen und durch den von den Fachschulen ausgehenden gewerblichen Wanderunterricht. Im Schuljahre 1902/03 bestanden 6 staatliche gewerbliche Zentralanstalten mit 926 Schülern, 22 Staatsgewerbeschulen und verwandte Anstalten mit 13,444 Schülern, 11 allgemeine Handwerkerschulen mit 2651 Schülern, 158 Fachschulen für einzelne gewerbliche Zweige, darunter 18 für Spitzenarbeiten, 38 für Weberei und Wirkerei, 24 für Holzbearbeitung, 11 für Metallbearbeitung, 9 für keramische und Glasindustrie, 4 für Steinbearbeitung, 29 für Korbflechterei, 25 verschiedener Ziele mit zusammen 11,510 Schülern und 908 gewerbliche Fortbildungsschulen mit rund 117,000 Schülern. Nicht gerechnet sind dabei landwirtschaftliche, Bergschulen, Navigationsschulen und gewerbliche Fachklassen, die sich an einzelnen Mittelschulen finden. – Auch die Schweiz entfaltet reges Streben auf dem Gebiete des technischen Fachschulwesens, besonders seitdem (1884) eidgenössische Beihilfen für das gewerbliche Bildungswesen ausgesetzt wurden. 1898 nahmen an dieser Subvention 228 gewerbliche Schulen für das männliche, 123 für das weibliche Geschlecht teil, darunter 38 gewerbliche Zeichenschulen, 13 mit Gewerbemuseen und Lehrmittelsammlungen verbundene Anstalten, 7 Uhrmacherschulen, 7 Lehrwerkstätten für verschiedene Gewerke, 6 Kunstgewerbeschulen, 2 Webschulen, eine Schnitzschule und 4 Gewerbeschulen (Techniken) mit umfassendern Lehrplänen. – Im weitern Ausland steht Frankreich voran, wo schon seit dem berühmten Duruyschen Gesetz von 1865 über das enseignement spécial (primaire et secondaire) und der Begründung einer eignen Lehrerschule (école normale spéciale) zu Cluny das Fachschulwesen zu reicher Blüte gelangte. Auch in Belgien herrscht auf dem Gebiete des gewerblichen Fachschulwesens reges Vorwärtsstreben. Vgl. H. Grothe, Die technischen Fachschulen ni Europa und Amerika (Berl. 1882); Simon, Das gewerbliche Fortbildungs- und Fachschulwesen in Deutschland (das. 1903); Lexis, Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich, Bd. 4 (das. 1904). Die Spezialliteratur für einzelne Länder und einzelne Berufszweige ist unabsehbar. Mancherlei wertvolle Einzelheiten ergibt der amtliche Bericht: »Congrés international de l'enseignement technique, commercial et industriel tenu à Paris août 1900« (Par. 1900). Für Preußen vgl. O. Simon, Die Fachbildung des preußischen Gewerbe- und Handelsstandes im 18. und 19. Jahrhundert (Berl. 1902,14 Hefte).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.