- Erfrierung
Erfrierung (Congelatio), die durch andauernde Einwirkung höherer Kältegrade auf den tierischen und menschlichen Organismus herbeigeführten örtlichen oder den Gesamtorganismus betreffenden Veränderungen. Die Einwirkung der Kälte auf den Gesamtorganismus kann in kurzer Zeit den Tod herbeiführen. Völlig gesunde und kräftige Subjekte widerstehen der Kälte länger als schwächliche, noch nicht ausgewachsene, schlecht genährte, zarte Personen; es kommt ferner die Gewöhnung in Betracht: Nordpolfahrer trotzten monatelang einer Kälte von 40–50° ohne großen Nachteil. Geistige Depression, Nahrungsmangel, Ermüdung begünstigen die E. Bewegte kalte Luft wirkt intensiver als ruhige, kaltes Wasser am intensivsten; im Schnee vergrabene Personen bleiben länger lebendig. Es entstehen bei der E. Taubheit der Empfindung und alsbald völlige Gefühllosigkeit aller mit der Luft in Berührung stehenden Teile; alle Bewegungen werden mühsam und schwierig, die Augen schließen sich, und ein unwiderstehliches Bedürfnis zu schlafen tritt ein. Dasselbe ist so mächtig, daß sich die Unglücklichen selbst bei vollem Verständnis für die Gefahr, die ihrer wartet, wenn sie nicht durch fleißige Bewegung einen Rest von Wärme zu erhalten suchen, dennoch dem Schlaf, d. h. dem sichern Tod, überlassen. Die Ursache des Todes ist die niedere Körpertemperatur an sich, da die Lebensfunktionen des Körpers sich nur innerhalb bestimmter Temperaturen, etwa bis zu -20° herunter, vollziehen. Sind die Hautgefäße erweitert, so sind die Bedingungen für die Abkühlung des Blutes auf diese Temperatur besonders günstig; darum erfrieren Betrunkene so leicht, denn bei ihnen hat der Alkohol die Hautgefäße erweitert. Individuen, die in Gefahr zu erfrieren sind und im Zustand des Scheintodes aufgefunden werden, müssen in kühlen Räumen gehalten und dürfen nur ganz allmählich einer höhern Temperatur ausgesetzt werden. Man bringe den durch Kälte Erstarrten in ein kaltes Zimmer, reibe ihn mit (schmelzendem) Schnee und Eis und setze ihn in ein kaltes Bad. Dabei ist Vorsicht nötig, damit die erstarrten Glieder nicht ab- oder zerbrechen. Fängt das Leben an zurückzukehren, läßt sich der Herzschlag hören, so beginnt man das Wasser allmählich lau zu machen, hält dem Kranken Salmiakgeist unter die Nase, bläst ihm vorsichtig Luft in dieselbe, reibt den Körper mit Terpentinöl oder Spiritus und gibt innerlich belebende Mittel, Kognak, starken Wein und heißen Kaffee.
Die örtlichen Einwirkungen der Kälte sind je nach dem Temperaturgrad und der Dauer verschieden. Anfänglich erzeugt die Kälte, ehe sie noch Gefrieren hervorruft, Röte und Geschwulst (Frostbeulen). Die Röte geht bald ins Blaue oder Violette über. Bei plötzlicher Einwirkung werden hervorragende Teile (z. B. Ohr, Nase, Wange) blaß, starr und steif. Zugleich entsteht ein heftiger Schmerz, obgleich Berührung keine Empfindung veranlaßt. Später stellt sich vollständige Unempfindlichkeit ein, die Betreffenden ahnen oft gar nicht den Zustand ihrer Körperteile und werden erst durch andre Personen darauf aufmerksam gemacht. Bei solcher heftigern Einwirkung der Kälte entstehen dann Blasen infolge der eintretenden entzündlichen Reaktion, besonders sehr rasch, wenn man den Teil zu früh einer höhern Temperatur aussetzt. Ist die Entzündung nicht sehr heftig, so regeneriert sich die zur Blase emporgehobene Oberhaut; ist sie aber bedeutender, dann entstehen Geschwüre mit jauchiger Absonderung, durch die an Händen und Füßen sogar die Knochen bloßgelegt werden können. Der höchste Grad der E. ist die Ertötung des Teiles, die Verwandlung desselben in eine schwarze, allmählich hart werdende, gefühllose Masse (Brand, s.d., S. 312), die durch eine demarkierende Entzündung von dem Gesunden abgetrennt und schließlich abgestoßen wird. Natürlich kann dies Abstoßen nur bei Zehen- oder Fingergliedern abgewartet werden; bei großen Gliedmaßen amputiert man, sobald sich die Demarkationslinie gebildet hat. Auch bei der Behandlung örtlich erfrorner und durch Frost stark getroffener Teile ist zuerst Kälte, Reiben mit (schmelzendem) Schnee etc. anzuwenden. Über die Behandlung anschließender Entzündungen s.d. Bei oberflächlichen Frostbeulen ist ein Vaselinläppchen auszulegen; die Hauptsache ist aber die Verhütung der Frostbeulen durch Abhärtung (s.d.). Vgl. Esmarch, Erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen (18. Aufl., Leipz. 1902); Sonnenburg, Verbrennungen und Erfrierungen (Stuttg. 1879); J. Müller, Der Bau und die Tätigkeit des menschlichen Körpers (Berl. 1901).
Bei Pflanzen versteht man unter E. die Schädigung, welche sie durch niedere Temperaturen erleiden. Im allgemeinen handelt es sich dabei nicht um ein wirkliches Gefrieren der lebenden Substanz, sondern um die Herabminderung oder Unterdrückung der Wasserzufuhr durch die Wurzeln. Die auch bei niedern Temperaturen ununterbrochen stattfindende Wasserverdunstung aus der Oberfläche des Pflanzenkörpers hat dabei ein Welken und Vertrocknen der krautartigen Teile zur Folge. Die Temperaturgrade, bei denen im Innern des Pflanzenkörpers ein wirkliches Gefrieren eintritt, liegen besonders bei wasserarmen Geweben bedeutend unter dem Nullpunkt. Dabei wird durch die Eisbildung dem Protoplasma das Wasser entrissen und die lebende Substanz durch Zerstörung ihrer Struktur abgetötet. Vgl. Molisch, Untersuchungen über das Erfrieren (Jena 1897).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.