Elektrische Kraftübertragung

Elektrische Kraftübertragung

Elektrische Kraftübertragung, die Übertragung der an einem bestimmten Orte verfügbaren mechanischen Energie mit Hilfe des elektrischen Stromes an einen von jenem entfernten Ort, um dort zu mechanischer Arbeitsleistung verwendet zu werden. Es wird also nicht Kraft, es wird Arbeit oder Energie übertragen, doch hat sich der nicht ganz zutreffende Ausdruck Kraftübertragung eingebürgert. Zur Ausführung einer elektrischen Kraftübertragung bedarf man zweier Dynamomaschinen, deren Polklemmen durch Drähte miteinander verbunden sind. Die eine wird durch die mech anische Kraft, deren Arbeit übertragen werden soll, in Bewegung gesetzt, der von ihr zur andern gelangende Strom setzt dann diese in die nämliche Bewegung, so daß es möglich wird, von ihr Maschinen treiben zu lassen. Man kann zu diesem Zwecke Gleichstrom verwenden, vorteilhafter ist hochgespannter Wechselstrom, insbes. Drehstrom (vgl. Elektromotoren). Mit der Erfindung der Dynamomaschine hatte 1867 Werner Siemens auch die Aufgabe der Arbeitsübertragung gelöst, indem er dargetan hatte, daß die Maschine umkehrbar se i, also auch als Motor gebraucht werden könne. 1873 betrieb man auf der Wiener Weltausstellung mit Hilfe zweier Grammemaschinen durch eine Dynamomaschine eine etwa 500 m entfernte Pumpe, und auf der Münchener elektrischen Ausstellung erhöhte man diese Entfernung auf 50 km. Indessen waren diese und einige andre eingerichtete Arbeitsübertragungen nur als mehr oder weniger gelungene Versuche anzusehen, Arbeitsübertragungen dagegen, die mit einer für die praktische Anwendung nötigen Sicherheit und mit entsprechend geringen Verlusten arbeiteten, hat die Maschinenfabrik Örlikon bei Zürich zuerst mit Gleichstrom ausgeführt und dabei je nach der Anzahl der übertragenen Pferdestärken und den zugehörigen Entfernungen Güteverhältnisse bis zu 80 Proz. erreicht. Auf der Frankfurter elektrischen Ausstellung von 1891 wurde auf eine Entfernung von 175 km die etwa 300 Pferdestärken liefernde Wasserkraft des Neckars bei Lauffen nach Frankfurt mit dem damals eben eingeführten Drehstrom übertragen; die hohe Spannung von 15,000 Volt, die gegen den Schluß der Versuche auf 30,000 Volt gesteigert wurde, hatte keine Übelstände im Gefolge, und es wurde ein Güteverhältnis von 72 Proz. erreicht. Dies günstige Ergebnis hatte zur Folge, daß man überall daran ging, Arbeitsübertragungen einzurichten, namentlich wurden die mächtigen Wasserfälle des Niagara und des Rheins ausgenutzt. Dem Niagara werden 50,000 Pferdestärken durch 10 Turbinen entnommen. In der Nähe der Niagarawerke ist eine Fabrikstadt entstanden, in der Karborundum, Calciumkarbid, Papier etc. hergestellt wird. Ein Teil der Wasserkraft betreibt die Bahnen, die unter anderm den Verkehr der neuen Stadt Niagara mit dem benachbarten Buffalo vermitteln. Ende 1896 schuf man eine Arbeitsübertragung nach Buffalo auf 42 km Entfernung mit Drehstrom von 11,000 Volt Spannung. Zwar liefern die Maschinen am Niagara zweiphasigen Wechselstrom (s. Elektromotoren), doch läßt sich dieser leicht in Drehstrom umformen. Mit der höchsten praktisch noch anwendbaren Spannung (40,000 Volt) arbeitet die 1898 m Telluride (Colorado) ausgeführte Übertragung, die 700 Pferdestärken auf 56 km überträgt. Dem Rhein unterhalb der Einmündung der Aar werden 9800 Pferdestärken entnommen und in der Umgebung an Fabriken abgegeben. Diesen großen Übertragungen treten zahlreiche kleinere an die Seite, die für die betreffenden Länder von verhältnismäßig größerer Bedeutung sind. Zuerst begann man in der Schweiz mit der Übertragung auch kleiner Wasserkräfte auf geringe Entfernungen, dann folgten Tirol, Italien, die französischen Alpen, Schweden und Norwegen. Überall werden hier oft abseits im Gebirge liegende Wasserkräfte für technische Zwecke verwertet. Von großer Bedeutung ist die e. K. auch für bessere Ausnutzung von Brennstoffen. Man benutzt jetzt die noch viel Heizkraft enthaltenden, vom Hochofen abziehenden Gase zum Betrieb von Gaskraftmaschinen und diese zum Betrieb von Dynamomaschinen, deren Arbeit sich dann für ein weites Gebiet nutzbar machen läßt. Auch heizt man mit geringwertigen Brennstoffen in der Nähe der Gruben Dampfkessel großer Dampfmaschinen, um deren Arbeit an beliebige Orte zu übertragen. Ja, man würde dies auch mit Vorteil bei wertvollern Brennstoffen tun können, man brauchte dann eine große statt vieler kleinen Dampfmaschinenanlagen, jene arbeitet aber vorteilhafter als diese, und man hätte anstatt der großen Kosten der Kohlentransporte nur die viel geringern zu tragen, die durch die Verluste bei der elektrischen Kraftübertragung verursacht werden. Eine besondere Wichtigkeit hat endlich die Arbeitsübertragung in Werkstätten gewonnen, in denen eine Reihe Maschinen von einer Dampfmaschine aus angetrieben werden. Alle mit der bisher üblichen Transmission verknüpften Übelstände fallen fort, wenn man von der Dampfmaschine etc. eine Dynamomaschine treiben läßt und durch diese eine Reihe Elektromotoren, die in der Nähe der Arbeitsmaschinen aufgestellt sind (vgl. Antrieb). Bei der elektrischen Kraftübertragung ist nach Bell eine Spannung von 10,000 Volt jederzeit zulässig und hierbei eine wirksame Isolierung der Leitung unter allen Umständen durchführbar. Für Spannungen von 20,000 Volt bleiben die Bedingungen dieselben, nur muß man der Isolation größere Beachtung schenken und für die Sicherheit erhöhte Vorsorge treffen. Doch beginnen bei dieser Spannung die Drähte einer oberirdischen Leitung während der Nacht infolge der Entladung statischer Elektrizität zu leuchten. Ist nun auch der dadurch eintretende Verlust nicht von Bedeutung, so darf er bei einer Spannung von 40,000 Volt und darüber doch nicht mehr vernachlässigt werden. Diese Spannung ist demnach die höchste, die angewendet werden darf. Hinsichtlich der Entfernungen, auf die elektrische Energie übertragen werden soll, folgert Bell aus bisherigen Erfahrungen, daß die Übertragung einer Energie von 500–1000 Kilowatt auf 25–40 km sich im allgemeinen stets rentieren wird, daß dasselbe auch in den meisten Fällen für 40–80 km gelten, daß aber für 80–150 km der Erfolg zweifelhaft wird und nur bei großen Anlagen erwartet werden kann.

Vgl. Kapp, Elektrische Kraftübertragung (deutsch von Holborn und Kahle, 3. Aufl., Berl. u. Münch. 1898); Japing, Die e. K. (3. Aufl., Wien 1891); Krämer, Wirkungsgrade und Kosten elektrischer und mechanischer Krafttransmissionen (2. Aufl., Leipz. 1900); Derselbe, Der Drehstrom (Jena 1896); »Elektrische Kraftübertragung und Kraftverteilung« (hrsg. von der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft in Berlin); Bermbach, Elektrizitätswerke, elektrische Beleuchtung und e. K. (2. Aufl., Wiesbad. 1900); Hoppe, Wie stellt man Kostenanschläge etc. für elektrische Licht- und Kraftanlagen auf? (2. Aufl., Leipz. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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