Corpus juris

Corpus juris

Corpus juris (lat., »Rechtskörper«), Benennung gewisser Sammlungen einzelner Gesetze oder Gesetzbücher. Für die Rechtsgeschichte am bedeutsamsten ist das C. j. civilis. So wird seit den Glossatoren (s. Glosse) die Gesamtheit der Gesetzbücher des oströmischen Kaisers Flavius Iustinianus genannt, die dieser publiziert hat. Die Sammlung besteht aus vier Teilen, Institutiones, Pandectae oder Digesta, Codex constitutionum, Novellae. Die Institutionen wurden 21. Nov. 533 publiziert, mit Gesetzeskraft vom 30. Dez. 533. Sie sollten zugleich Lehrbuch für den Anfangsunterricht an den Rechtsschulen zu Byzanz und Beryto sein. Daher rührt ihr Name; denn diesen Anfangsunterricht nannte man institutio. Die Institutionen geben eine kurzgefaßte historisch-systematische Darstellung des justinianischen Rechts. Ihr Vorbild waren die Institutionen des Gajus (s.d.). Die Digesten oder Pandekten, publiziert 16. Dez. 533, mit Gesetzeskraft vom 30. Dez. 533, sollen das zur Zeit ihrer Abfassung noch geltende Recht der Wissenschaft umfassen, d. h. dasjenige Recht, das die Juristen in der Zeit von Augustus bis Konstantin den Großen kraft kaiserlichen Privilegs geschaffen hatten (vgl. Responsa prudentium). Die Methode der Darstellung dieses Juristenrechts war die, daß man die Schriften von 39 Juristen so weit auszog, als es nötig war, um die einzelnen Rechtsmaterien zu regeln. Jedem einzelnen Exzerpt, lex genannt, wurde die Angabe des Werkes, dem es entnommen, vorausgeschickt (inscriptio). Der Name Pandekten rührt daher, daß das gesamte geltende Juristenrecht aufgenommen worden sein sollte (πανδέκται abgeleitet von πᾶν [alles] und δέχομαι [aufnehmen]); digesta bedeutet die Einteilung des gesamten Stoffes (digerere in libros). Den Institutionen und Digesten folgte 16. Nov. 534 der Codex constitutionum oder Justinianeus, mit Gesetzeskraft vom 29. Dez. 534, eine Zusammenstellung dervon den Kaisern erlassenen Anordnungen bis auf Justinian (constitutiones principum in ihren verschiedenen Formen als: edicta, mandata, rescripta und decreta). Die Novellae (sc. leges) sind meist griechisch geschriebene Einzelgesetze Justinians aus der Zeit von 535–563. Eine amtliche Ausgabe gibt es von ihnen nicht, nur private Sammlungen. Die umfassendste enthält 168 Gesetze in griechischer Sprache, von denen jedoch ein Teil nicht mehr von Justinian herrührt. Sie wurde erst im 16. Jahrh. aufgefunden und ist daher den Glossatoren unbekannt geblieben, die anfangs lediglich einen von Julianus, Professor in Konstantinopel, gefertigten Auszug von 124 Novellen in lateinischer Sprache besaßen. Später gelangten sie in den Besitz einer Sammlung von 134 vollständigen Novellen, die, mit Ausnahme der wenigen in lateinischer Sprache erlassenen, aus dem griechischen Originaltext übersetzt sind und Liber Authenticorum oder Authenticum genannt wurden, weil eben diese Sammlung, nicht die Epitome Juliani, die echten Novellen Justinians enthalten sollte.

Die genannten vier Sammlungen bilden das in Deutschland rezipierte römische Recht; doch ist dem C. j. civilis noch manches andre angehängt, so 13 Edikte Justinians, Verordnungen späterer Kaiser, die Canones apostolorum und die Libri feudorum. Letztere, aus Arbeiten verschiedener Verfasser zusammengesetzt und in den 80er Jahren des 12. Jahrh. äußerlich aneinandergereiht, enthalten das langobardische Lehnrecht. Sie wurden als zehnte Kollation den von den Glossatoren in neun »Kollationen« abgeteilten Novellen hinzugefügt und erlangten in Deutschland gesetzliche Gültigkeit. Die Verbindung der einzelnen Teile des C. zu einem geschlossenen Ganzen erfolgte durch die Rechtsschule der Glossatoren zu Bologna, deren Unterricht vorzugsweise in einer Erklärung des C. bestand. Die daraus hervorgegangenen Glossen, in Gestalt der von Accursius besorgten Glossa ordinaria, d. h. einer Zusammenfassung der seit dem Beginn der Glossatorentätigkeit entstandenen Glossen, bilden einen Bestandteil der glossierten Ausgaben des C. Unter den glossierten Ausgaben sind zu nennen die von Contius (Par. 1576, 5 Bde.), Dionysius Gothofredus (Lyon 1589, 6 Bde.; mit gemeinschaftlichem Titel 1604; vermehrt und verbessert 1612). Von den unglossierten Ausgaben verdient Erwähnung die des Haloander (Nürnb. 1629–31, 6 Bde.). Durch kritische oder exegetische Noten sind ausgezeichnet die von Dionysius und Jacobus Gothofredus (Genf 1624, 2 Bde.). Die beliebteste Handausgabe mit kurzen kritischen Noten lieferten die Gebrüder Kriegel im Verein mit Emil Herrmann und Osenbrüggen (Leipz. 1828–37; 17. Aufl., Stuttg. 1887, 3 Bde.); die neueste und beste kritische Ausgabe ist die von Th. Mommsen (Bd. 1: Institutionen, 9. Aufl., Berl. 1902), P. Krüger (Bd. 2: Cod. Just., 7. Aufl. 1900) und R. Schoell (Bd. 3: Novellen, 2. Aufl. 1899). Eine deutsche Übersetzung des gesamten C. veranstalteten Otto, Schilling und Sintenis (Leipz. 1830 bis 1833, 7 Bde.). – Die Zitierweise veranschaulichen folgende Beispiele: a) § 1 I. 4,6, d. h. der erste Paragraph des 6. Titels des 4. Buches der Institutionen; b) l. 35 § 4 D. 18,1, d. h. § 4 der Lex 35 des ersten Titels des 18. Buches der Digesten; c) l. 15 pr. C. 6,23, d. h. der Anfang (principium) der 15. Verordnung (l ex) des 23. Titels des 6. Buches des Kodex; d) nov. 118 cap. l, d. h. erstes Kapitel der 118. Novelle.

Ähnlich wie das C. j. civilis wurde im spätern Mittelalter das Corpus juris canonici zusammengestellt und in Bologna von dortigen Rechtslehrern glossiert. Dasselbe enthält zunächst das um 1145 abgefaßte Dekret des Gratian, eines Mönches, das alle frühern Sammlungen, worin die päpstliche Gewalt, die Rechte des Klerus, die Kirchenzucht, die heiligen Gnadenhandlungen abgehandelt waren, Echtes wie Falsches, in ein Ganzes vereinigte. Es enthält drei Teile, von denen der erste und dritte in Distinktionen und Canones zerfallen, der zweite aus Causae (Rechtsfällen) besteht. Hieran reihte sich eine Sammlung der päpstlichen Dekretalen und Konzilienbeschlüsse in fünf Büchern, die auf Befehl Gregors IX. 1234 durch Raimund von Pennaforte zusammengestellt wurde und als liber extra Decretum vagans schlechtweg mit »Liber extra« (abgekürzt: »X«) zitiert wird. Die Sammlung Bonifatius' VIII. von 1298, die ebenfalls aus fünf Büchern besteht und im Anschluß an die vorige Sammlung der »Liber sextus« genannt wird, begreift die seit Gregor erlassenen Dekretalen und die Beschlüsse der ökumenischen Konzile zu Lyon von 1245 und 1275. Dazu kam die Sammlung Clemens' V. (Clementinae constitutiones, Klementinen), die größtenteils Synodalbeschlüsse enthält und aus dem Jahr 1313 herrührt. Diese Bestandteile des C. j. canonici heißen C. j. can. clausum. Außerdem sind dem kanonischen Rechtsbuch noch unter dem Namen Extravaganten, d. h. Decretales extra c. j. can. clausum vagantes, Dekretalensammlungen späterer Päpste angefügt, die aber bei uns nicht mit rezipiert worden sind. Von den Ausgaben des C. j. canonici sind hervorzuheben die unter der Autorität des Papstes Gregor XIII. publizierte sogen. römische von 1582 mit Glosse, die von E. Friedberg (Leipz. 1879–81, 2 Tle.) sowie die deutsche Übersetzung von Schilling und Sintenis (das. 1835–39, 2 Bde.).

Den Namen C. hat man auch mehreren neuern Privatsammlungen von Gesetzen und Gesetzbüchern beigelegt. So gibt es ein »C.j. romani antejustinianei« (Bonn 1835–44), ein »C. j. Confoederationis Germanicae oder Staatsakten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes«von Meyer (ll. Aufl., ergänzt von Zöpfl, Frankf. 1858–69, 3 Bde.) und das »C. j. civilis für das Deutsche Reich und Preußen« von Meyerhoff, eine handliche, mit guten Erläuterungen versehene Ausgabe des 1901 in Kraft getretenen Reichsrechts (Berl. 1900ff.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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