- Ode
Ode (griech.) heißt dasjenige Erzeugnis der Lyrik (s. d.), in dem die ästhetischen Werte des Erhabenen (und nicht, wie im Lied, diejenigen des Schönen) zum Ausdruck kommen, sei es das Erhabene der Natur oder des menschlichen Willens oder des Schicksals. Der Größe dieses Inhalts gemäß verbindet sich in der O. das lyrische Element oft mit dem reflektierenden Element der Poesie. Dem starken Affekt, den sie verkörpert, entsprechen oft die kühnen Übergänge und Sprünge der Gedanken; der künstliche Strophenbau verrät ihren Gegensatz zu der Sangbarkeit des Liedes. Die O. weiß die tiefsten Regungen menschlicher Freude und Trauer, des Verlangens und Widerstrebens zu erschöpfen; aber nicht die kleinern Begebenheiten des Privatlebens, sondern nur die großen Eindrücke der Natur, der nationalen und politischen Vorgänge in Geschichte und Leben, die religiösen und philosophischen Probleme des erschütterten Herzens erwecken ihren erhabenen Schwung. Die O. findet sich als geistliche O. am frühesten bei den Hebräern (Psalmen Davids), als weltliche bei den Griechen (Pindars olympische Oden) und Römern (Horaz). Das christliche Altertum erhebt sich in den Clementinischen Hymnen, das Mittelalter unter dem bezeichnenden Einfluß des Franz von Assisi, Jacopone da Todi (»Stabat mater«), Thomas von Celano (»Dies irae«) und Thomas von Aquino (»Lauda Sion«) zum geistlichen Odenschwung. In Italien kam die O. im 16. Jahrh. in Aufnahme (Bernardo Tasso, Luigi Alamanni); aber erst Gabriello Chiabrera (gest. 1637) schuf bedeutende Dichtungen dieser Art. Unter den spätern italienischen Poeten haben sich besonders Vincenzo da Filicaja, Vittorio Alfieri und Alessandro Manzoni (»Il cinque Maggio«) als Odendichter ausgezeichnet. Die Literaturgeschichte der Spanier erkennt Ponce de Leon (gest. 1591), Fernando de Herrera und unter den Neuern Juan Baptista de Arriaza (»Cantos patrioticos«) den Preis zu. Von den ältern Franzosen genießt den ausgezeichnetsten Ruhm als Odendichter der frostige Jean Baptiste Rousseau, von den neuern A. Chénier, Victor Hugo, A. de Musset (»Dieu«), Lamartine u.a. In England errangen Abraham Cowley, John Dryden (»Alexander's feast, or the power of music«) und Alex. Pope den größten Beifall. Unter den Slawen haben die Russen Dershawin, Puschkin und Lermontow Oden gedichtet. In Deutschland ist die O. insbes. durch Klopstock, Ramler, Goethe, Hölderlin, Platen, Möser u.a. gepflegt worden. – In der Musik ist O. soviel wie Lied, besonders im 17.–18. Jahrh. der Name des einstimmigen, begleiteten Liedes sowie der Festkantate (Purcells »Welcome songs«, Huldigungskantaten etc. heißen Oden). O.-symphonie, bei den Franzosen soviel wie Symphonie mit Chor.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.