Nagetiere

Nagetiere

Nagetiere (Glires, Rodentia; hierzu Tafel »Nagetiere I-IV«), eine durch ihr Gebiß scharf umschriebene Ordnung der Säugetiere ohne Eckzähne und mit meist nur wenigen Backenzähnen; Schneidezähne sind bei den Hafen im Oberkiefer 4, im Unterkiefer 2, sonst in jedem Kiefer nur 2 vorhanden, die jedoch sehr stark bogenförmig gekrümmt sind und stetig nachwachsen, so daß sie trotz der raschen Abnutzung nicht kürzer werden, aber wenn die ihnen entsprechenden Zähne im andern Kiefer durch einen Zufall entfernt werden, im Bogen fortwachsen, so daß sie sogar das Fressen unmöglich machen. Vergleichend anatomische und entwickelungsgeschichtliche Untersuchungen haben gezeigt, daß sich das Nagergebiß auf eine geschlossene Zahnreihe zurückführen läßt, und zwar entspricht der Nagzahn nicht, wie man annahm, dem ersten, sondern vielmehr dem zweiten Schneidezahn der andern Säugetiere. Die charakteristische Ausbildung der Schneidezähne geschah auf Kosten der andern Schneidezähne, Eckzähne und Prämolaren. Außerdem fiel bei den Schneidezähnen infolge des Weiterwachsens der Zahnwechsel weg. Das Nagen mit den Schneidezähnen geschieht durch Vor- und Rückwärtsbewegung des Unterkiefers; seitliche Bewegungen hingegen, wie sie die Wiederkäuer ausführen, sind durch den Bau des Kiefergelenks fast ganz ausgeschlossen. – Die Gliedmaßen, besonders die Hinterbeine, sind bei den raschen und vielfachen Bewegungen der N. (sie laufen, schwimmen, graben, springen und klettern meist vortrefflich) sehr stark gebaut. Der Gang erfolgt auf der Sohle; die Zehen sind frei und tragen meist Krallen. Schlüsselbeine sind vorhanden, obwohl zuweilen nur schwach ausgebildet; den Meerschweinchen fehlen sie. Die Nahrung besteht meist aus Pflanzenstoffen, besonders aus Früchten, Körnern und Wurzeln; einige Arten sammeln Vorräte in Backentaschen und bringen sie so in die Nester. Der Magen kann zweiteilig sein; der Blinddarm ist meist sehr umfangreich. Die Hoden liegen meist in der Bauchhöhle, rücken aber zur Brunstzeit in den Hodensack. Die Gebärmutter ist mehr oder weniger doppelt; die Placenta ist scheibenförmig. Die Zitzen, 2–14 an der Zahl, liegen meist in der Weichengegend, selten auch an der Brust. – Die geistigen Fähigkeiten der N. sind im allgemeinen, entsprechend dem kleinen und windungslosen Gehirn, gering; indessen äußern einige Arten Kunsttriebe, indem sie Nester bauen, Wohnungen graben und Wintervorräte aufhäufen. Die Sinneswerkzeuge sind gut entwickelt, nur mehrere grabende Arten haben keine äußern Ohren und nur sehr kleine Augen. Einige N. verfallen in Winterschlaf, andre (z. B. der Lemming, Myodes; s. unten: 13. Familie) stellen in großen Scharen Wanderungen an. Sie sind sehr fruchtbar, und manche werfen im Jahr 4–6 mal. Die N. sind über die ganze Erde verbreitet, vorzugsweise aber in Nordamerika zu Hause; einige Arten folgen dem Menschen in alle Weltteile. Südamerika unterscheidet sich durch seine N. sehr bestimmt von Nordamerika, und auch Afrika weicht durch besondere Gattungen vom Reste des Alten Kontinents ab. In Australien sind nur einige Gattungen von Mäusen heimisch. Fossil treten N. schon sehr früh auf; sie waren zum Teil viel größer als die noch lebenden, die kaum 1 m lang und 1/2 m hoch werden, dagegen in der Regel sehr klein bleiben. Wahrscheinlich stammen sie von den Beuteltieren ab; die ältesten echten N. sind die Eichhörnchen. Die lebenden (über 700) Arten reiht man in etwa 100 Gattungen und in 6–16 Familien, resp. Unterfamilien ein.


1. Familie. Hasen (Leporidae). Behaarung dicht, Ohren lang, Schwanz kurz, Hinterbeine länger als Vorderbeine, hinter den obern beiden Schneidezähnen stehen noch zwei andre, oben 12, unten 10 Backenzähne, Schlüsselbeine verkümmert, vorn 5, hinten 4 auch auf der Sohle behaarte Zehen, Blinddarm groß. Die Hasen sind schnelle Läufer. Die einzige lebende Gattung, Lepus (Hase), mit 30–40 Arten, ist hauptsächlich in Nordamerika, Europa und Nordasien verbreitet, fehlt gänzlich in Australien, Polynesien und einigen andern Inselgruppen.

2. Familie. Pfeifhasen (Lagomyidae). Stehen den echten Hasen sehr nahe, haben jedoch kürzere Ohren und Hinterbeine, keinen Schwanz, nur 20 Backenzähne und vollständigere Schlüsselbeine. Sie leben in selbstgegrabenen Höhlen, in deren Nähe sie Wintervorräte aufhäufen, auf den Hochebenen Nordindiens und in Sibirien bis zur Wolga hin sowie im Felsengebirge Nordamerikas; bei Gefahr lassen sie einen starken Pfiff hören. Lebend nur die Gattung Lagomys, Tafel I, Fig. 2, mit etwa 10 Arten; fossil andre in der Alten Welt und Nordamerika.

3. Familie. Meerschweinchen (Caviidae) oder Halbhufer (Subungulata). Nägel sturnpf, hufähnlich, Füße vorn mit 4, hinten meist mit 3 Zehen, Schlüsselbeine fehlen, Ohren gewöhnlich groß, Schwanz verkümmert, Haar grob und straff, nur 16 Backenzähne. Die lebenden 6 Gattungen mit etwa 30 Arten gehören Mittel- und Südamerika an, fossil sind sie auch in Nordamerika vertreten. Hierher unter andern Cavia (Meerschweinchen, Taf. I, Fig. 1), Dasyprocta (Aguti), Dolichotis (Mara) und Hydrochoerus, das größte lebende Nagetier, Tafel I, Fig. 3.

4. Familie. Stachelschweine (Hystricidae). Auf dem Rücken lange Stacheln, Zehen mit scharfen, starken Krallen, Beine und Schnauze kurz, nur 16 Backenzähne. Nächtliche Tiere; leben teils auf Bäumen, teils in selbstgegrabenen Löchern. Von den lebenden 6 Gattungen mit etwa 25 Arten sind die kletternden und mit langem Greifschwanz versehenen Baumstachelschweine (Cercolabina) nur in Amerika heimisch, während die Hystricina oder echten Stachelschweine (Tafel I, Fig. 4) nur in Afrika, Südasien und Südeuropa vorkommen, jedoch fossil auch in Nordamerika gefunden sind.

5. Familie. Schrotmäuse (Echimyidae) oder Trunratten, ähneln den echten Ratten in der Form des Körpers sowie durch den langen, geringelten Schwanz, Haarkleid teils weich, teils straff und selbst mit Borsten und Stacheln versehen, Füße meist mit 5 Zehen, Backenzähne 16 oder 12. Die etwa 20 lebenden Gattungen mit etwa 50 Arten leben vorzugsweise in Südamerika, aber auch in Südeuropa und Afrika; fossil finden sie sich selbst in Mitteleuropa. Hierher unter andern Myopotamus (Sumpfbiber, Tafel II, Fig. 2).

6. Familie. Hasenmäuse (Lagostomidae) oder Chiuchillen (Chinchillidae). Schwanz buschig, lang, Pelz weich und wollig, Ohren lang, Hinterfüße länger als Vorderfüße. Sie leben gesellig meist in den höhern Regionen (bis zu 5000 m) der Anden Südamerikas; 3 Gattungen mit 6 Arten; fossil ebenfalls in Südamerika. Hierher unter andern Lagostomus (Viscacha, Pampashase, Taf. II, Fig. 1) und Eriomys (Chinchilla, Taf. II, Fig. 3).

7. Familie. Biber (Castoridae). Groß und plump, Beine kurz, mit 5 Zehen und starken Krallen, Hinterfüße mit Schwimmhäuten, Schwanz platt, mit Schuppen, Schneidezähne sehr stark, 16 Backenzähne; in die Vorhaut münden zwei Säcke ein, die das Bibergeil absondern. Lebend nur Castor (Biber), mit 2 Arten (Tafel II, Fig. 5), in Nordamerika sowie in Mitteleuropa und Mittelasien; fossil in denselben Gegenden mehrere Arten Castor und andre Gattungen.

8. Familie. Sackmäuse (Taschenrnäuse, Saccomydae). Mit Backentaschen, die von außen gefüllt werden und innen behaart sind, Füße mit 5 Zehen, 16 Backenzähne. 6 Gattungen mit 25 Arten, in Nordamerika. Hierher die Taschenspringmaus (Dipodomys Philippii in Kalifornien).

9. Familie. Taschenratten (Geomydae). Mit außen an den Wangen sich öffnenden, innen behaarten Backentaschen, plumpem Körper, dickem Kopf, kurzem Hals, niedern Beinen und kurzem Schwanz, vorn und hinten 5 Zehen, an den Vorderfüßen lange und starke Krallen; Nordamerika, Hierher die Taschenratte, Goffer (Geomys bursarius, Tafel II, Fig.4), lebt unterirdisch wie der Maulwurf und nährt sich von Wurzeln und Knollen, also schädlich; zwischen Felsengebirge und Mississippi.

10. Familie. Springmäuse (Dipodidae). Hinterbeine sehr lang, Mittelfußknochen derselben wie bei den Vögeln zu einem einzigen Röhrenknochen verschmolzen, mit 3–5 Zehen, Vorderfüße sehr kurz, fünfzehig, Schwanz stark, hilft zum Springen, 12–16 Backenzähne, Blinddarm groß. Lebend 3 Gattungen mit über 20 Arten, hauptsächlich in den Küstenländern des östlichen Teiles des Mittelländischen Meeres, jedoch auch in Ostindien, am Kap der Guten Hoffnung und in Nordamerika. Hierher unter andern Dipus (Springmaus, Tafel III, Fig. 8). Fossil in den Alpen und in Frankreich.

11. Familie. Maulwurfmäuse (Spalacidae oder Georychidae). Ähnlich den Maulwürfen, Ohren und Augen versteckt, Beine kurz und fünfzehig, zu Grabfüßen umgestaltet, Schwanz stummelförmig, 12–16 Backenzähne. Leben in selbstgegrabenen Gängen. 7 Gattungen mit fast 20 Arten, in Südeuropa, Westund Südasien sowie in ganz Afrika. Hierher Spalax (Blindmaus) und Georhychus (Erdgräber).

12. Familie. Mäuse (Muridae). Schnauze spitz, Ohren lang, Schwanz lang und entweder behaart oder schuppig geringelt, Füße fünfzehig, jedoch an den Vorderfüßen der Daumen meist verkümmert, 8–14 Backenzähne. Hausen meist in selbstgegrabenen Gängen und fressen zum Teil auch Insekten und Fleisch. Lebend etwa 30 Gattungen mit über 250 Arten, fehlen nur auf den australischen Inseln und Polynesien. Hierher unter andern Mus (Tafel III, Fig. 1, 2, 4, mit über 100 Arten, fehlt in Amerika), Maus und Ratte; Cricetus (Hamster, Tafel III, Fig. 5).

13. Familie. Wühlmäuse (Arvicolidae). Schnauze stumpf, Ohren und Schwanz kurz, 12 Backenzähne. Hausen unterirdisch, vielfach in der Nähe des Wassers und schwimmen dann gut. 6 lebende Gattungen mit etwa 60 Arten; Verbreitung wie bei der vorigen Familie. Hierher unter andern Arvicola (Wühlmaus, Tafel III, Fig. 3), Myodes (Lemming, Tafel III, Fig. 7) und Fiber (Bisamratte, Tafel III, Fig. 6).

14. Familie. Schlafmäuse (Myoxidae). Gleichen den Eichhörnchen, stehen aber im Knochenbau den Mäusen nahe. Hinterfüße mit 5, Vordefüße mit 4 Zehen und einem verkümmerten Daumen, der einen Plattnagel trägt, Schwanz dicht behaart, 16 Backenzähne, Blinddarm fehlt. Nächtliche Tiere; leben von Früchten, Insekten, Eiern u. dgl. und verfallen in einen Winterschlaf. Nur Myoxus mit 12 Arten, die in ganz Afrika und dem gemäßigten Europa und Asien verbreitet sind; auch fossil in (Europa. Hierher Myoxus (Siebenschläfer, Tafel IV, Fig. 2) und Eliomys (Gartenschläfer) u.a.

15. Familie. Eichhörnchen (Sciuridae). Schwanz lang, dicht behaart, meist buschig, Gliedmaßen wie bei der vorigen Familie, 16–20 Backenzähne, Blinddarm vorhanden. Sie leben meist auf Bäumen, seltener in selbstgegrabenen Höhlen, und halten einen Winterschlaf. Sie lebenden 8 Gattungen mit etwa 180 Arten fehlen nur auf Madagaskar, Westindien, Australien und Polynesien. Hierher unter andern Sciurus (Eichhörnchen, Tafel IV, Fig. 3), Spermophilus (Zieselmaus, Tafel IV, Fig. 1), Arctomys (Murmeltier, Tafel IV, Fig. 5, Bobak, Tafel IV, Fig. 6) und Cynomys (Präriehund, Tafel IV, Fig. 4). Die fossilen Eichhörnchen sind die ältesten fossilen N. (bereits im Eocän).


Vgl. T. Tullberg, Über das System der N. (Upsala 1899).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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