Lehramtsprüfungen

Lehramtsprüfungen

Lehramtsprüfungen, staatlich geordnete Prüfungen, durch deren Bestehen die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Lehrämter dargetan werden muß, vestehen in allen gebildeten Staaten, in denen das Schulwesen als Angelegenheit des Staates oder wenigstens als der Aussicht des Staates unterliegend betrachtet wird. Abgesehen von den technischen Prüfungen (für Turn-, Zeichen-, Musik-, Handarbeitslehrer und -Lehrerinnen) und denen für einzelne vesondere Zweige des Erziehungs- und Unterrichtswesens (Taubstummen-, Blindenwesen, Handels-, Landwirtschaftsschulen etc.) sind im allgemeinen zu unterscheiden Lehrer- und Lehrerinnenprüfungen sowie Prüfungen für das Lehramt an Volksschulen und für das an höhern Schulen. Wegen der Lehrerinnenprüfungen s. Lehrerinnen. Für die Prüfungen der Lehrer dürfen die preußischen Ordnungen als typisches Beispiel gelten, da alle übrigen deutschen Staaten diese pei der Neuordnung der L. mehr oder weniger zum Muster genommen haben.

I. Die Prüfungen für das Lehramt an Volksschulen verdanken ihre gegenwärtige Einrichtung den »Allgemeinen Bestimmungen« des Kultusministers Falk vom 15. Okt. 1872 und den darauf weiter bauenden Vorschriften vom 1. Juli 1901. Nach der in diesen enthaltenen Ordnung der Prüfungen der Volksschullehrer gilt als erste Prüfung, durch welche die Fähigkeit zur widerruflichen (provisorischen) Anstellung erlangt wird, die Entlassungsprüfung an den Schullehrerseminaren, zu der auch nicht im Seminar vorgebildete Lehramtskandidaten zugelassen werden, die das 20. Lebensjahr zurückgelegt und durch Zeugnisse ihre sittliche Unbescholtenheit und körperliche Tüchtigkeit zur Verwaltung eines Lehramtes nachgewiesen haben. Die Prüfungskommission besteht aus dem Kommissar des Provinzialschulkollegiums als Vorsitzendem, einem Kommissar der Bezirksregierung, in deren Bezirk das Seminar liegt, dem Direktor und den ordentlichen Lehrern des Seminars, welch letztere als Examinatoren fungieren. Die Prüfung ist schriftlich, mündlich und praktisch (Lehrprobe) und erstreckt sich über sämtliche pflichtige Gegenstände des Seminarunterrichts. Bei der Religionsprüfung wirkt für katholische Bewerber ein bischöflicher Kommissar, für evangelische der zuständige Generalsuperintendent oder dessen Vertreter mit. Bei jüdischen Bewerbern bildet die Religion keinen Gegenstand der Prüfung. Frühestens 2, spätestens 5 Jahre nach der ersten Prüfung haben die Volksschullehrer an einem Seminar desjenigen Regierungsbezirks, in dem sie angestellt sind, in einer zweiten Prüfung die Fähigkeit zur unwiderruflichen (definitiven) Anstellung darzutun. Die Kommission ist ebenso zusammengesetzt wie bei der ersten Prüfung. Auch der Verlauf der Prüfung ist wesentlich gleich. Sie erstreckt sich über dieselben Gegenstände, nur fällt das Hauptgewicht auf Erforschung der methodischen und praktischen Tüchtigkeit. Muß diese beiden Prüfungen jeder Lehrer an öffentlichen Volksschulen ablegen, so kann ein solcher, nachdem dies geschehen, das Recht zur Anstellung als Lehrer an Oberklassen der Mittelschulen und höhern Mädchenschulen durch die Prüfung für Lehrer an Mittelschulen erwerben, für die ebenfalls die bis jetzt geltende Ordnung 15. Okt. 1872 erlassen und 1. Juli 1901 in etwas veränderter Gestalt erneuert ward. Diese Prüfung wird am Sitz des Provinzialschulkollegiums vor einer eigens dazu bestellten Kommission abgelegt; zu ihr haben neben Volksschullehrern, die ihre zweite Prüfung bestanden haben, auch Geistliche, Kandidaten der Theologie oder des höhern Lehramtes und überhaupt Bewerber Zutritt, die ein akademisches Triennium ordnungsmäßig absolviert haben. Vor derselben Kommission wird endlich auch die Anwartschaft zur Anstellung als Seminardirektor, Seminarlehrer, Vorsteher öffentlicher Präparandenanstalten, Rektor von höhern Mädchen- oder Mittelschulen und zur Leitung von Volksschulen mit sechs oder mehr Klassenstufen sowie mehrklassiger Privatschulen durch Ablegung der Rektoratsprüfung erworben. Zugelassen werden alle, welche die Mittelschulprüfung bestanden und wenigstens drei Jahre im Schuldienst gewirkt haben; andre nur mit besonderer Erlaubnis des Unterrichtsministers. In Sachsen (Königreich und Großherzogtum) und Hessen dürfen Volksschullehrer, die ihre Prüfungen gut bestanden haben, die Universität besuchen und nach zweijährigem Studium eine pädagogische Staatsprüfung ablegen, die ihnen ähnliche Vorrechte und Anwartschaften verleiht wie die preußische Rektorprüfung.

II. Die Prüfung für das Lehramt an höhern Schulen (Examen pro facultate docendi) wurde in Preußen zugleich mit den wissenschaftlichen Deputationen in Berlin, Breslau und Königsberg 4. Dez. 1809 eingerichtet. Die erste Prüfungsordnung für diese erschien 12. Juli 1810. Dadurch wurde der höhere Lehrstand als solcher in Preußen überhaupt erst begründet und von dem der Theologen gesondert. An Stelle der Deputationen traten 1816 die wissenschaftlichen Prüfungskommissionen an den Universitäten, die, alljährlich vom Kultusminister ernannt und ihm unmittelbar unterstellt, noch jetzt diese Prüfung abnehmen. Die Prüfungsordnung hat mehrfache Überarbeitungen erfahren. In der Gestalt vom 12. Dez. 1866 wurde sie infolge der Beschlüsse schulmännischer Delegierter der deutschen Bundesstaaten in Dresden (1872) Grundlage aller spätern Prüfungsregulative in Deutschland. Indes machte man ihr mehr und mehr drei Gebrechen zum Vorwurf. Der Nachweis der allgemeinen Bildung, an sich eine berechtigte Forderung, hatte fast die Ausdehnung einer selbständigen Nebenprüfung erlangt; es wirkte beengend, daß alle zulässigen Verbindungen von einzelnen Lehrfächern, in denen der Bewerber die Lehrbefähigung nachzuweisen hatte, von vornherein festgestellt waren; endlich war es möglich, die Prüfung mit einem Zeugnis (dritten Grades, nur für Unterklassen) zu bestehen, das tatsächlich von keiner Anstellungsbehörde für ausreichend erachtet wurde. Nach längern Vorberatungen ward daher unterm 5. Febr. 1887 eine neue Prüfungsordnung in 43 Paragraphen erlassen, die diese Fehler zu vermeiden suchte. Indes folgte bereits 12. Sept. 1898 wiederum ein neues Reglement. Nach diesem wird jeder deutsche Bewerber zugelassen, der unbescholten ist, das Reifezeugnis einer deutschen höhern Vollanstalt (Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule) besitzt und mindestens sechs Halbjahre an einer deutschen Universität (davon in der Regel drei an einer preußischen) studiert hat. Für Mathematik, Physik, Chemie gilt bis zu drei Semestern auch das Studium an einer technischen Hochschule. Für jeden zugelassenen Bewerber bestellt aus der größern Prüfungskommission der Vorsitzer einen engern Prüfungsausschuß. Die Prüfung selbst besteht aus zwei Teilen, der allgemeinen und der Fachprüfung, von denen wiederum jede sich teils schriftlich, teils mündlich vollzieht. Die beiden schriftlichen Arbeiten werden als Hausaufgaben mit 16wöchiger Frist gestellt. Bei der freien Wahl der Prüfungsgegenstände ist der Examinand doch soweit beschränkt, daß stets eine der folgenden Kombinationen vorkommen muß: Latein und Griechisch, Französisch und Englisch, Geschichte und Erdkunde, Religion und Hebräisch, reine Mathematik und Physik, Chemie nebst Mineralogie und Physik oder statt dieser Botanik und Zoologie; mit der Maßgabe jedoch, daß an Stelle jedes in den drei ersten Paaren genannten Prüfungsgegenstandes sowie an Stelle von Hebräisch im vierten Paare Deutsch treten kann. Die allgemeine Prüfung erstreckt sich auf Religionslehre (für Christen), Philosophie, Pädagogik und deutsche Literatur. In der Fachprüfung muß der Kandidat, um das Zeugnis davonzutragen, die Lehrbefähigung mindestens in einem Fache für die erste, außerdem in zweien für die zweite Stufe dartun. Der frühere Unterschied von Oberlehrer- und Lehrerzeugnissen besteht nicht mehr. Alle Zeugnisse befähigen für die Berufslaufbahn des Oberlehrers an höhern Schulen in gleicher Weise. Doch besteht eine Abstufung in dem zu erteilenden Gesamtprädikate (genügend, gut, mit Auszeichnung bestanden). Im Falle des Mißlingens bestimmt der Prüfungsausschuß, ob und binnen welcher Frist die Prüfung zu wiederholen oder in einzelnen Teilen zu ergänzen ist. Erweiterungsprüfungen sind für angestellte Lehrer binnen sechs Jahren nach bestandener erster Prüfung unter Befürwortung des zuständigen Provinzialschulkollegiums je eine zur Erhöhung erworbener und zur Erwerbung neuer Lehrbefugnisse zulässig. – Das erlangte Oberlehrerzeugnis berechtigt übrigens noch nicht zur Anstellung im höhern Schuldienst, sondern nur zum Eintritt in den zweijährigen Vorbereitungsdienst für das höhere Schulwesen (Seminar- und Probejahr). Erst wenn der Inhaber diese Vorstufen mit ausreichendem Erfolg überwunden hat, erhält er vom zuständigen Provinzialschulkollegium das Zeugnis der Anstellungsfähigkeit. Vgl. für das Lehramt an Volksschulen: Schneider und v. Bremen, Das Volksschulwesen im preußischen Staat, Bd. 1, S. 539 ff. (Berl. 1886) und Die preußische Volksschule. Gesetze und Verordnungen (Stuttg. 1905); Schwochow, Die Fortbildung des Lehrers im Amte (3 Tle., in wiederholten Auflagen, Leipz. 1902–04); Beetz, Der Führer im Lehramte (Osterwieck 1902); »Handbuch für Lehrer und Lehrerinnen« (von Gallee, Griep, Kamp u.a., Leipz. 1903); für das Lehramt an höhern Schulen: »Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen« (1866, 1872, 1887, 1898); ferner: »Die Prüfungsvorschriften für den Unterricht an höhern und niedern Schulen in Preußen« (7. Aufl., Berl. 1887), und hinsichtlich der Vorgeschichte der gegenwärtigen Ordnung: Wiese, Das höhere Schulwesen in Preußen, Bd. 1, S. 703, und Bd. 2, S. 610 (das. 1864–74) und Verordnungen und Gesetze für die höhern Schulen in Preußen, Bd. 2 (3. Aufl. von Kübler, das. 1886–88); Beier, Die höhern Schulen in Preußen und ihre Lehrer (2. Aufl., Halle 1902, mit Ergänzungsheften).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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