- Kurzsichtigkeit
Kurzsichtigkeit (Myopie), Sehstörung, die ein deutliches Erkennen der Gegenstände nur bei kurzer Entfernung zuläßt und auf einer zu starken Krümmung, d. h. Brechungsfähigkeit, der Hornhaut und Linse beruht, die demnach parallel einfallende, also aus der Ferne kommende Lichtstrahlen so stark bricht, daß sie anstatt auf der Netzhaut schon vor dieser sich schneiden, also auf der Netzhaut nur ein Zerstreuungsbild, d. h. ein undeutliches Bild, geben.
Werden die von F ausgehenden parallelen Strahlen durch Hornhaut und Linse so gebrochen, daß sie sich auf der Netzhaut im Punkt c schneiden, so gibt es ein deutliches Bild (Emmetropie, Normalsichtigkeit, Fig. 1); werden sie zu stark gebrochen und schneiden sie sich vor der Netzhaut (dd) in Punkt a, so geben sie auf der Netzhaut ein Zerstreuungsbild (Myopie, K., Fig. 2); werden die Strahlen zuwenig gebrochen, so schneiden sie sich hinter der Netzhaut in Punkt b, geben also abermals auf der Netzhaut ein Zerstreuungsbild (Hypermetropie, Übersichtigkeit, Fig. 3). Der Fernpunkt liegt bei der K. also zu nahe. Die K. kommt in verschiedenen Graden vor; bis zu einem etwas über 30 cm betragenden Abstande des Fernpunktes vom Auge ist sie eine geringe, bei einem Abstand bis zu 15,6 cm eine mittelgradige und bei einem Abstand bis zu 5 cm eine hochgradige. Die Bestimmung des Fernpunktes geschieht durch Druckschrift von verschiedenen bestimmten Größen oder (für Analphabeten) durch Figuren oder Punkte von verschiedener bestimmter Größe und bestimmter Anordnung, für deren einzelne die Entfernung, in denen das normale Auge jene Buchstaben oder Figuren und Punkte erkennt, genau ermittelt ist. Innerhalb der deutlichen Sehweite sieht das kurzsichtige Auge nicht nur ebensogut, sondern bei großer Nähe und Kleinheit der Gegenstände noch schärfer und ausdauernder als das normale, weil die Anpassungsmuskeln (Akkommodation) weniger angestrengt zu werden brauchen und infolge der großen Nähe, in welche kleine Gegenstände dem Auge gebracht werden dürfen, größere Bilder davon auf die Netzhaut geworfen werden. Alle jenseit des Fernpunktes befindlichen Gegenstände sieht der Kurzsichtige von um so größern Zerstreuungskreisen umgeben, also um so undeutlicher und verwaschener, je entfernter sie sind. Durch halbes Schließen der Augen, wodurch die Pupille gleichsam verkleinert wird, lassen sich auch die Zerstreuungskreise verkleinern, wodurch etwas deutlicheres Sehen möglich gemacht wird, daher die Gewohnheit Kurzsichtiger, die Augenlider aneinander zu bringen. Weitaus in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle von K. ist Augenanstrengung während der Wachstumsperiode als die Ursache derselben anzusehen. Nach statistischen Erhebungen bei 200,000 Individuen in allen Ländern wächst die Häufigkeit der K. mit der Arbeitsleistung der Unterrichtsanstalten und in den einzelnen Schulen von Klasse zu Klasse. Schmidt-Rimpler berechnete für das 1.–5. Schuljahr 15,5, für das 6.–10. 31,9, für das 11. Schuljahr und später 51,3 Proz. Dabei fand sich:
Bei Prüfung der wehrpflichtigen Mannschaft ergab sich, daß die K. mit den Ansprüchen wächst, welche Vorbildung und Beruf an die Augen gestellt haben. Unter 1810 bayrischen Soldaten fanden sich bei Einjährigen, Kaufleuten, Schreibern, Schriftsetzern 56,7, bei Handwerkern etc. 8,7, bei städtischen Arbeitern 4,0, bei Dorfarbeitern 2,4 Proz. Kurzsichtige. Aus diesen Zahlen darf man schließen, daß von der Arbeit unabhängige Formen der K. selten sind.
Der Umstand, daß von den Schülern derselben Klasse bei annähernd gleicher Arbeitsleistung nur ein Teil kurzsichtig wird, deutet darauf hin, daß außer der Nahearbeit noch eine entferntere Ursache der K. vorhanden ist. Allgemeine Körperschwäche, insbes. Rekonvaleszenz nach schweren Krankheiten sind in erster Linie zu nennen. Augenentzündungen, besonders wenn dabei gelesen und geschrieben wird, Hornhautflecke, welche die Sehschärfe herabsetzen, Astigmatismus, manche Formen von partiellem Katarakt können die Entstehung der K. begünstigen. Auch geringe Dicke und Widerstandsfähigkeit der Umhüllungshaut des Auges und Kürze des Sehnervs werden als disponierend bezeichnet. In bezug auf die Erblichkeit kann man unterscheiden die Vererbung einer gewissen körperlichen Eigenart, auf Grund deren sich bei Hinzutritt von Augenarbeit K. entwickeln kann, auch wenn keiner der Vorfahren kurzsichtig war, und ferner die Vererbung einer durch Nahearbeit erworbenen K. Das erstere Verhältnis erweist sich nur als eine Umschreibung dafür, daß wir das Wesen der Disposition nicht kennen, und die Annahme, sie möge erblich sein, sinkt daher zur bloßen Vermutung herab. Das zweite Verhältnis betrifft die vielumstrittene Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften. Nach Kirchners Untersuchungen waren etwa 16 Proz. der K. durch erbliche Anlage verschuldet. Die Versuche, die Disposition zur K. von Rasseeigenschaften, von dem Breiten-Höhen-Index ((100 Höhe)/Breite) der Augenhöhlenöffnung, von der Farbe der Augen oder der Haare abzuleiten, haben zu keinem positiven Ergebnis geführt. Es läßt sich gegenwärtig nur feststellen, daß Nahearbeit in der Zeit des Körperwachstums zur K. führt, daß die Häufigkeit und Höhe der K. im geraden Verhältnis steht zur Anstrengung des Auges, daß aber eine Anzahl von Individuen trotz Nahearbeit normal bleibt. Manches spricht dafür, daß die Immunität gegen K. nur eine graduelle und keine absolute sei. Gegenwärtig werden 50–60 Proz. der Gymnasiasten kurzsichtig, bei weiterer Steigerung der Ansprüche an das Auge würde dieser Prozentsatz wahrscheinlich noch überschritten werden.
Bei dem Zustandekommen der K. scheinen folgende Faktoren mitzuwirken: 1) Blutandrang zum Auge und zwar die physiologische Blutfüllung jedes arbeitenden Organs sowie Stauung bei Vorbeugung des Kopfes; 2) Wirkung des innern Augenmuskels (Anpassungsvermögen); 3) Wirkung der äußern Augenmuskeln: Konvergenz und Abwärtsblick; 4) Zugwirkung des bei Konvergenz gespannten Sehnervs. Die Verhütung der K. hat die Dauer der Arbeit und den Grad der Annäherung des Auges an die Arbeit zu berücksichtigen, und da Augenarbeit in der Kindheit meist in der Schule oder für dieselbe geleistet wird, so liegt die Prophylaxe der K. wesentlich der Schulgesundheitspflege (s. d.) ob. Die Abkürzung der Arbeitszeit, ohne das Maß der Geistesbildung herabzudrücken, ist eine pädagogische Aufgabe. Dabei kommen außer den Lehrplänen in Betracht: das Hinausschieben des Schulbeginns bis nach vollendetem 7. Lebensjahr; die Möglichkeit ausnahmsweisen halbjährigen Vorrückens; schulhygienische Vorbildung aller Lehrkräfte (um Verschwendung an Zeit und Augenanstrengung sowie Überbürdung zu vermeiden, richtigen Wechsel zwischen Schreiben, Lesen und rein geistiger Arbeit, Schonung schwacher Schüler zu erreichen etc.); Einschränkung der von der Schule nicht geforderten und für die Ausbildung entbehrlichen häuslichen Augenarbeit; Beseitigung der Fraktur in Schrift und Druck. Daß durch alle hygienischen Maßregeln die K. nicht aus der Welt geschafft werden kann, ist selbstverständlich, wohl aber kann ihre Häufigkeit erheblich vermindert, ihr Fortschreiten zu höhern Graden gehemmt werden. Über den Einfluß des Berufs auf die K. sind die Kenntnisse noch lückenhaft, und die spärliche Statistik erlaubt keine allgemeinen Schlüsse. Cohn fand bei Breslauer Uhrmachern 9,7, bei Gold- und Silberarbeitern 12, bei Lithographen 45, bei Schriftsetzern 51 Proz. Kurzsichtige. Die Behandlung der K. geschieht mittels passender, von einem Augenarzt zu wählender Brillen (s. Brille). Vgl. Cohn, Untersuchungen der Augen von 10,060 Schulkindern (Leipz. 1867); Arlt, Über die Ursachen und die Entstehung der K. (Wien 1876); Emmert, Auge und Schädel (Berl. 1880); Dürr, Entwickelung der K. während der Schuljahre (Braunschw. 1884); Stilling, Untersuchungen über die Entstehung der K. (Wiesb. 1887) und Schädelbau und K. (das. 1888); Pflüger, K. und Erziehung (das. 1887); Hippel, Über den Einfluß hygienischer Maßregeln auf die Schulmyopie (Gießen 1889), dazu die Bemerkungen von Cohn unter gleichem Titel (Hamb. 1890); Kirchner, Untersuchungen über die Entstehung der K. (in der »Zeitschrift für Hygiene«, Leipz. 1889); Weber, Über die Augenuntersuchungen etc. (Darmst. 1881); Schmidt-Rimpler, Die Schulkurzsichtigkeit und ihre Bekämpfung (Leipz. 1890); Cohn, Lehrbuch der Hygiene des Auges (Wien 1891); Wingerath, Nochmals K. und Schule (Berl. 1893); Stilling, Die Myopiafrage mit besonderer Rücksicht auf die Schule (in der »Zeitschrift für Schulgesundheitspflege«, 1893, Nr. 7 u. 8); Heß, Anomalien der Refraktion und Akkommodation des Auges (im Handbuch von Gräfe-Sämisch, 2. Aufl. 1902).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.