- Hermes [1]
Hermes, griech. Gott, Sohn des Zeus und der Maia, der Tochter des Atlas, geboren auf dem arkadischen Gebirge Kyllene (daher der Kyllenier genannt), zeigte, nach einem alten Hymnus, gleich nach seiner Geburt die Grundzüge seines Wesens: Erfindungsgabe, mit Anmut gepaarte Gewandtheit, List und Verschlagenheit. Vier Stunden alt, springt er aus der Wiege, erfindet, indem er über die Schale einer Schildkröte Saiten spannt, die Lyra, eilt in der Dämmerung nach Pierien und stiehlt 50 Rinder aus der Herde des Apollon, die er rückwärts vor sich her treibt und in einer Grotte verbirgt. Dann legt er sich ruhig in seine Wiege. Aber Apollons Seherkunst entdeckt den Dieb dem Zeus, der die Rückgabe der Rinder befiehlt: doch überläßt sie ihm Apollon für die Lyra und fügt noch den goldenen Stab des Glückes und Reichtums hinzu, Zeus aber macht H. zum Götterboten und Geleiter der Toten in den Hades. Im Mythus erscheint H. hauptsächlich als der Bote des Zeus, der mit Windeseile durch die Lüfte schwebt und seine Aufträge gewandt auszuführen weiß, wie die Tötung des 100äugigen Argos, von der man seinen Namen Argeiphontes als Argostöter deutete. Wie er in der Dichtung neben Athene als Helfer und Berater von Helden auftritt, so ist er überhaupt ein menschenfreundlicher Gott. In manchen Gegenden Griechenlands, besonders seiner Heimat Arkadien, galt er als Weiden und Herden Fruchtbarkeit verleihender Gott, der am liebsten unter Hirten und Nymphen weilt, von denen er Vater zahlreicher Kinder ist, wie des Pan und Daphnis, andernorts als Spender des Getreidesegens und der metallischen Schätze im Erdenschoß, auch des unvermuteten Fundes (nach ihm Hermäon genannt) Ein Förderer allen Verkehrs, allen Han dels und Wandels, allen Gewinnes, auch des listigen, ist er Schutzgott der Kaufleute, sogar der Diebe (sein Sohn Autolykos erscheint in der Sage als der größte Dieb), sowie auch der Wege und Straßen. Als solcher errichtete man ihm namentlich an Kreuzwegen Steinhaufen, sogen. Hermeshügel, denen jeder Wanderer einen Stein zufügte, und an Straßen, öffentlichen Plätzen und vor den Häusern Hermen (s. d.) genannte Pfeiler. Selbst rüstig, gewandt und anmutig, ist er Gott der Kraft und Schönheit verleihenden Gymnastik; als solcher waren ihm Palästren und Gymnasien geheiligt und wurden ihm eigne Feste (Hermia oder Hermäen) gefeiert. Als Erfinder der Lyra (nach manchen auch der Hirtenflöte) ist er ein Freund musischer Künste und ihrer Vertreter. Von ihm als Herold leitete man die Gabe einer starken Stimme, guten Gedächtnisses und kluger, gewandter Rede ab. Spätere sahen in ihm sogar den Erfinder der Schrift, der Zahlen, der Mathematik und der Astronomie. Auch als Gott des Schlafes und der Träume galt er, der durch Berührung mit seinem Stabe die Augen schließt und öffnet. Als Geleiter der Seelen in die Unterwelt (Psychopompos) steht er auch zu den unterirdischen Göttern in Beziehung, neben denen er bei Totenorakeln und Beschwörungen angerufen wurde. Über seine Gleichsetzung mit dem römischen Mercurius s. Merkur. Zu den Attributen des H. gehört der Pilos (pileus), ein glockenartiger Hut, oder der Petasos, ein breitkrempiger Reisehut, schon bei Homer Flügel an den Sohlen, später auch am Hut, am Stab und an den Schultern; ferner der Hermes- oder Heroldsstab (s. Caduceus).
Die künstlerischen Darstellungen des H. waren so mannigfaltig wie seine Bedeutung: als Hirt, als Dieb, als Kaufmann (mit dem Beutel), mit der Lyra oder als Götterbote oder Herold. Die altertümliche Kunst stellte ihn bärtig und als kräftigen Mann dar; früh aber machte sich auch die jugendliche Bildung geltend. Er trägt kurzes, gelocktes Haar und hat forschenden, klugen Ausdruck des Gesichts. Unter den erhaltenen Statuen sind vor allen das in Olympia ausgegrabene Meisterwerk des Praxiteles, H. mit dem Dionysosknaben auf dem Arm (Fig. 1, ergänzt auf Tafel »Bildhauerkunst IV«, Fig. 2), die früher fälschlich Jason genannte Statue (in München und im Kapitolinischen Museum) und eine Bronzestatue des ruhenden Götterboten (im Museum zu Neapel) zu erwähnen.
Als Vorsteher der Ringschule stellt ihn der prächtige sogen. Antinous des Belvedere im Vatikan dar, als H. Logios, d. h. Vorsteher der rhetorischen Kunst, der »H. Ludovisi« in Rom (Fig. 2), als Gott des Handels u. Verkehrs (mit gefülltem Beutel in der Hand) eine schöne Statue im Kapitol zu Rom u. eine Bronzestatuette des Britischen Museums. Unter den Köpfen des H. ragt besonders der in der Sammlung Lansdowne in London hervor. In römischen Bildwerken sind ihm häufig Hahn und Widder beigegeben (Fig. 3). Vgl. Kuhn in der »Zeitschrift für deutsches Altertum«, Bd. 6, S. 125 ff.; Roscher, H., der Windgott (Leipz. 1878) und dessen »Lexikon der griechischen Mythologie«, Bd 1, Sp. 2342 ff.; Scheffler, De Mercurio puero (Königsb. 1884).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.