- Handschriftendeutung
Handschriftendeutung, die Kunst, den Charakter eines Menschen aus den Zügen seiner Handschrift zu erkennen. Handschriftendeutungskunde (griech. Graphologie), die Lehre von der Handschrift und deren Beziehungen zum Charakter. Die heutige H. knüpft an Lavater an, der in seinen »Physiognomischen Fragmenten« (1777) diesem Gegenstand einen längern Abschnitt widmete, und an Moreau de la Sarthe, Professor der Medizin in Paris, der in seiner französischen Übersetzung Lavaters (1806) dessen Ideen weiter entwickelte. Später beschäftigte sich vornehmlich eine Reihe französischer Geistlicher mit der neuen Kunst. Von Deutschen ist aus früherer Zeit Henze zu erwähnen, der in der Leipziger »Illustrierten Zeitung« und in seiner »Chirogrammatomantie« (Leipz. 1862) höchst eigenartige und geistreiche Handschriftendeutungen veröffentlichte. Die ältern Vertreter der H. beschränkten sich in der Hauptsache darauf, rein gefühlsmäßig aus der Handschrift einen bestimmten Eindruck zu gewinnen, etwa so, wie man sich z. B. aus dem Gesichtsausdruck eines Menschen ein Bild von dessen innerm Wesen macht; ein festes System wurde erst von dem französischen Abbé Michon aufgestellt (»Systeme de Graphologie«, Par. 1875, und »Methode de Graphologie«, 1878). Nach seiner Theorie von den »signes fixes«, den sogen. graphologischen Zeichen, sollte jeder einzelnen handschriftlichen Eigenart eine ganz bestimmte, ein für allemal feststehende Charaktereigenschaft entsprechen, eine Lehre, die für überwunden gilt, seitdem man erkannt hat, daß eine bestimmte Charaktereigenschaft meist in einem ganzen Komplex von handschriftlichen Eigenarten zum Ausdruck gelangt. Michons unmittelbarer Nachfolger und jetziger Führer der Graphologie in Frankreich ist Crépieux-Jamin (»Traité pratique de Graphologie«, 1885, 6. Aufl. 1898; deutsch von Busse, 4. Aufl., Leipz. 1898, und »L'écriture et le caractère«, 4. Aufl. 1896; deutsch von Busse, das. 1902). In Deutschland haben besonders Langenbruch (»Graphologische Studien«, Berl. 1894), L. Meyer (»Lehrbuch der Graphologie«, Stuttg. 1895) und H. H. Busse (»Die Handschriftendeutungskunde«, 2. Aufl. 1897) für die Verbreitung der H. gewirkt. Während sich nun die H. in Frankreich einer weit größern Beliebtheit und Anerkennung erfreut, gebührt das Verdienst, die mehr exakte Forschung in Angriff genommen zu haben, doch entschieden Deutschland. Preyer versuchte zuerst in seiner »Psychologie des Schreibens« (Hamb. 1895) eine eingehendere psychophysiologische Begründung der H. zu geben, ein Unternehmen, das am erfolgreichsten von Georg Meyer (»Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie«, Jena 1901) und Klages fortgesetzt wurde. Seit 1896 besteht eine Deutsche graphologische Gesellschaft, in deren Publikationsorgan, den »Graphologischen Monatsheften«, die letzten Forschungsergebnisse enthalten sind. – Die Schreibbewegung, als deren Erzeugnis sich uns die Handschrift darbietet, ist als eine Kombination von willkürlichen und unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen aufzufassen. Wie jeglicher seiner Hantierung, so drückt der Mensch auch der Handschrift den Stempel seiner persönlichen Eigenart auf. In ihr fixiert sich nicht nur seine allgemeine Bewegungsart, die auch in der Mimik, der Gestikulatur, der Sprache, dem Gange zum Ausdruck gelangt, sondern sie offenbart auch, wie der Mensch arbeitet: ob mit Genauigkeit, Flüchtigkeit, Umständlichkeit, ob er Bildung, ob er Ordnungssinn, ob er Geschmack besitzt, und von welcher Art seine Geschmacksrichtung ist. Alles dieses und noch vieles Weitere gelangt in der Handschrift zum Ausdruck und gestattet unter günstigen Bedingungen einen mehr oder minder tiefen Einblick in die geistige Eigenart des Menschen. Durch vergleichende Zusammenstellung markanter Handschriften und Charaktere, durch Analogieschluß aus den bekanntern Ausdrucksbewegungen, durch Untersuchung von Schriften Geisteskranker, durch Experimente an normalen und hypnotisierten Menschen etc. ist man zu einigermaßen gesicherten wissenschaftlichen Grundlagen gelangt, während freilich die graphologische Praxis, d. h. die Handschriftdeutung selber, infolge der oft ungeheuern Kompliziertheit der Verhältnisse immer noch große, oft unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet. Die H. dient hauptsächlich Unterhaltungszwecken (so bestehen in manchen Unterhaltungsblättern »graphologische Briefkasten«), doch werden die Graphologen gelegentlich auch von Geschäften behufs Auswahl von Offerten sowie auch von Heiratslustigen um Rat angegangen. Bis zu welchem Grade von Zuverlässigkeit die H. einmal gelangen kann, muß zurzeit dahingestellt bleiben. – Von großer praktischer Bedeutung ist die gerichtliche Schriftexpertise, deren Aufgabe es ist, die Urheberschaft von Schriftstücken festzustellen, deren Echtheit angezweifelt wird (Urkundenfälschungen, Testaments-, Wechselfälschungen), oder die mit verstellter Handschrift angefertigt worden sind (anonyme Schmäh- und Verleumdungsschriften). Die Gerichte ziehen zur Begutachtung meist beeidigte Sachverständige heran (Schrift- oder Schreibsachverständige, Sachverständige für Handschriftenvergleichung, Schriftexperten). Mit H. hat diese Schriftexpertise nichts zu tun, sie läuft vielmehr in der Hauptsache auf eine Vergleichung der streitigen Schrift mit anerkannten Schriftproben hinaus. Das wichtigste Erfordernis dabei ist, daß der Sachverständige zu unterscheiden versteht, was an den betreffenden Handschriften wesentlich ist und was nicht. Er muß daher nicht nur eine genügende Erfahrung in Handschriftenkunde besitzen, sondern er muß auch wissen, inwiefern die Handschriften durch Stimmungsschwankungen, durch die Schreibmaterialien, durch das Verstellungsbestreben oder durch irgendwelche sonstige außergewöhnliche Umstände Änderungen unterworfen sein können, und wie weit es möglich ist, fremde Handschriften, insbes. Unterschriften, nachzuahmen. Es liegt in der Natur der Sache, daß das Ergebnis der Handschriftenvergleichung in vielen Fällen ein unentschiedenes ist. Infolge mancher in letzter Zeit vorgekommenen Irrtümer ist die Schriftexpertise etwas in Verruf gekommen, indes ist nicht zu verkennen, daß sie an Sicherheit erheblich gewonnen, seitdem man angefangen hat, anstatt der bisher meist verwendeten Gerichtsschreiber, Schreiblehrer, Lithographen die vielseitiger und besonders in Handschriftenkunde gründlicher gebildeten Graphologen heranzuziehen. Die Begutachtung der Echtheit alter Handschriften, insbes. alter Staatsurkunden, ist mehr Aufgabe der Diplomatik. Näheres über die Literatur s. in Busses »Bibliographie der Graphologie« (2. Aufl., Münch. 1900).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.