- Eisenbahnpolitik
Eisenbahnpolitik, der Inbegriff derjenigen Grundsätze, nach denen der Staat das Eisenbahnwesen behandelt. In der äußern Politik spielt der Bau strategischer Bahnen eine wichtige Rolle, in der innern sind die Eisenbahnen als Mittel zur Durchführung staatlicher Aufgaben von großer Bedeutung, z. B. zur Beschleunigung eines nationalen Verschmelzungsprozesses. Ein nach einheitlichen Grundsätzen ausgerüstetes und verwaltetes Staatseisenbahnnetz mit gleichmäßig geschultem Personal hat im Kriege viel höhern militärischen Wert als eine Anzahl von Privatbahnen, die in den erwähnten Punkten mehr oder weniger voneinander abweichen. Ein ausgedehnter einheitlicher Staatsbahnbesitz erhöht die Macht eines Landes und seiner Regierung nach außen und innen. Aus diesem Gesichtspunkt ist auch der seinerzeit an dem Widerstande der deutschen Mittelstaaten gescheiterte Plan des Fürsten Bismarck zu beurteilen, das Eigentum und die Verwaltung sämtlicher Eisenbahnen Deutschlands in der Hand der Reichsgewalt zu vereinigen. Auch in andern Ländern, wie England, haben hauptsächlich Erwägungen politischer Natur die Abneigung gegen weitere namhafte Verstärkung des Einflusses der Regierung, die Erwerbung und Inbetriebnahme der Eisenbahnen durch den Staat bisher verhindert. Von großer politischer und wirtschaftlicher Bedeutung ist ein Staatsbahnbetrieb für die Gestaltung der Handelspolitik.
Im weitern, dem gewöhnlichen Sinne, versteht man unter E. die leitenden Grundsätze und Ziele der Verwaltung in volkswirtschaftlicher Beziehung. Hierbei sind die Eisenbahnen nicht Mittel, sondern Gegenstand der Politik. Die wichtigste Frage der E. in diesem Sinne ist die nach dem Verwaltungssystem: Staatsbahnsystem oder Privatbahnsystem. In Preußen entschied man sich anfänglich für ein Nebeneinanderbestehen beider Systeme, das sogen. gemischte System. Erst Ende der 1870er Jahre wurde durch den Fürsten Bismarck eine kraftvolle Verstaatlichungspolitik begonnen, die nach Verstaatlichung der Ostpreußischen Südbahn, der Marienburg-Mlawkaer, der Altdamm-Kolberger, der Stargard-Küstriner. der Kiel-Eckernförde-Flensburger, der Dortmund-Gronau-Enscheder und der Breslau-Warschauer Bahn im wesentlichen abgeschlossen ist. Die frühere Hessische Ludwigsbahn ist 1. April 1897 in den gemeinsamen Besitz des preußischen und des hessischen Staates übergegangen. Zu ihrer Verwaltung ist eine Betriebs- und Finanzgemeinschaft gebildet, in die auch die oberhessischen Eisenbahnen und die im Eigentum des hessischen Staates befindlichen Nebenbahnen einbezogen sind. Der Beitritt andrer Staaten mit ihren Eisenbahnen zu dieser Gemeinschaft ist in dem betreffenden Staatsvertrag ausdrücklich vorgesehen. Im Artikel 22 heißt es: »Für den Fall, daß die Aufnahme in die Gemeinschaft von andern Eisenbahnverwaltungen des Deutschen Reiches beantragt und von der preußischen Regierung zugestanden werden sollte, wird die hessische Regierung einen Widerspruch dagegen nicht erheben, wenn die finanziellen Beziehungen nach den in diesem Vertrag angewendeten Grundsätzen geregelt werden.« Noch bemerkenswerter ist Artikel 23, der folgenden Wortlaut hat: »Jedem der beiden vertragschließenden Staaten soll es vorbehalten bleiben, für den Fall der Abtretung seines Eisenbahnbesitzes an das Deutsche Reich auch die aus diesem Vertrag erworbenen Rechte und Pflichten auf das Reich mit zu übertragen.« In Bayern besteht das gemischte System noch heute. Von Erwerbung der Pfälzischen Eisenbahnen ist vorläufig Abstand genommen. Alle übrigen deutschen Staaten haben die Eisenbahnen in ihrem Gebiet entweder von vornherein oder durch Ankauf in ihr Eigentum und ihre Verwaltung gebracht. In Österreich ist neuerdings die Verstaatlichung der österreichisch-ungarischen Staatseisenbahngesellschaft in Angriff genommen worden. In der Schweiz nimmt die 1898 durch Volksabstimmung beschlossene Erwerbung der fünf Hauptbahnen, der Nordostbahn, Zentralbahn, Jura-Simplonbahn, der Vereinigten Schweizerbahnen und der Gotthardbahn, durch den Bund ihren Fortgang. 1903 werden voraussichtlich sämtliche fünf Hauptbahnen bis auf die Gotthardbahn in das Eigentum des Bundes übergegangen sein. In Frankreich hat die Kammer 1902 einen aus dem Hause gestellten Antrag auf vorläufige Verstaatlichung der Westbahn und der Südbahn angenommen. In Rußland ist neuerdings ein Stillstand in der E. eingetreten. Wenn von der großen Eisenbahnlinie abgesehen wird, die bei Tula die Moskau-Kursker (Privat-) Bahn schneidet und über Penza-Samara-Ufa-Tscheljabinsk durch Sibirien bis Wladiwostok führt, ein Unternehmen, das schon wegen seiner ungeheuern Ausdehnung und seiner voraussichtlichen Unrentabilität nicht einer Privatgesellschaft überlassen werden konnte, so ist deutlich erkennbar, daß das Streben der russischen Regierung bisher darauf gerichtet gewesen ist, in dem durch die Eisenbahnlinie Petersburg-Moskau-Orel-Kursk-Charkow-Sebastopol begrenzten westlichen Teil Rußlands die Verstaatlichung durchzuführen. Hauptsächlich scheinen politische Erwägungen dafür bestimmend gewesen zu sein, die besonders mit strategischen Rücksichten und mit dem Wunsch einer starkern Russifizierung der betreffenden Landesteile zusammenhängen. In England nehmen die auf Verstaatlichung der Eisenbahnen gerichteten Bestrebungen immer größern Umfang und festere Gestalt an, ein Beweis dafür, daß trotz der in mancher Hinsicht musterhaften Verwaltung der dortigen Eisenbahnen die mit dem Privatbahnsystem verbundenen Mängel sich auch dort in zunehmendem Maße fühlbar machen.
Man hat sich allgemein überzeugt, daß das Staatsbahnsystem alle Vorteile des Großbetriebs mit der Möglichkeit weitestgehender Berücksichtigung der Bedürfnisse des öffentlichen Verkehrs vereinigt. Von der Systemfrage hängen wesentlich ab die wirtschaftlichen Grundsätze der E. Unter dem Privatbahnsystem wird natürlich der privatwirtschaftliche, auf Erzielung eines möglichst hohen Unternehmergewinnes gerichtete Grundsatz vorherrschen; die Bedürfnisse des öffentlichen Verkehrs werden dabei nur insoweit Befriedigung finden, als damit zugleich jenem Grundsatz gedient ist, oder soweit die staatliche Aussicht (s. Eisenbahnrecht) gegen das eigne Interesse (der Unternehmer) dazu nötigt. Dagegen wird sich der Staatsbahnbetrieb, wenn er nicht, wie vorübergehend in Preußen, durch höhere politische Rücksichten zu einer weitgehenden Anwendung des privatwirtschaftlichen Grundsatzes veranlaßt wird, sich mehr dem Gebührenprinzip zuwenden, welches das Entgelt für die einzelnen Leistungen nicht nach deren Wert für den Empfänger oder ihren Kosten im einzelnen, sondern nach den Durchschnittskosten aller Leistungen gleicher Art in der Weise bemißt, daß die Gesamteinnahmen die Aufwandkosten ungefähr decken. Daß auch bei Anwendung des privatwirtschaftlichen Grundsatzes im Staatsbahnbetrieb die Interessen der Gesamtheit in vieler Hinsicht besser gewahrt sind als unter dem Privatbahnsystem, ergibt sich schon daraus, daß dort die erzielten Überschüsse nicht wie hier einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Unternehmern (Aktionären), sondern der Gesamtheit der Steuerzahler zu gute kommen.
Außer der Entscheidung für Staats-, Privatbahn- oder für gemischtes System und dem wirtschaftlichen Grundsatz der Verwaltung im allgemeinen, von dem namentlich die Eisenbahntarifpolitik abhängig ist, umfaßt die E. im weitern Sinne die Art der Verwaltung überhaupt, die Aufeinanderfolge der Herstellung der einzelnen Linien und ihre Ausrüstung je nach ihrer Bedeutung, den richtigen Ausbau eines Eisenbahnnetzes und die Fürsorge für Befriedigung der Bedürfnisse des Verkehrs in jeder Beziehung, namentlich auch nach Maß und Beschaffenheit der Transportleistungen. Vgl. List, Das deutsche Eisenbahnsystem (Stuttg. 1841); Perrot, Deutsche E. (Berl. 1872); Dorn, Aufgaben der E. (das. 1874); Schreiber, Die preußischen Eisenbahnen und ihr Verhältnis zum Staat, 1834–1874, und Bericht der Spezialkommission zur Untersuchung des Eisenbahnwesens in Preußen (das. 1874); Cohn, Streitfragen der E. (das. 1874); Derselbe, Zur Beurteilung der englischen E. (Leipz. 1875); Weber, Die Individualisierung u. Entwickelbarkeit der Eisenbahnen (das. 1875); Mohl, Die Frage von Reichseisenbahnen (Stuttg. 1876); »Zehn Jahre preußisch-deutscher E.« (anonym, Leipz. 1876); Jaques, E. und Eisenbahnrecht in Österreich (Wien 1878); Sax, Die Verkehrsmittel in Volks- u. Staatswirtschaft, Bd. 2 (das. 1879); Kupka, Eisenbahn- und Tarifpolitik in den Vereinigten Staaten (das. 1880); Pieck, Die Eisenbahnfrage in Italien (im »Archiv für Eisenbahnwesen«, 1882); Cohn, Die englische E. der letzten 10 Jahre 1873–1883 (Leipz. 1883); Ulrich, Das Eisenbahntarifwesen (Berl. 1886); v. d. Leyen, Die Finanz- und Verkehrspolitik der nordamerikanischen Eisenbahnen (2. Aufl., das. 1895); Keller, Der Staatsbahngedanke bei den verschiedenen Völkern, historisch dargestellt (Aarau 1897).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.