Zschokke

Zschokke

Zschokke, Johann Heinrich Daniel, deutscher Schriftsteller, geb. 22. März 1771 in Magdeburg, gest. 27. Juni 1848 auf seinem Landsitz Blumenhalde an der Aare, Sohn eines wohlhabenden Tuchmachers, erhielt seine Bildung auf der Klosterschule und dem Altstädter Gymnasium seiner Vaterstadt, entfernte sich von dort plötzlich im Januar 1788, war ein Jahr Hauslehrer in Schwerin und trieb sich hierauf zwei Jahre hindurch als Theaterdichter mit einer wandernden Schauspielertruppe umher. 1790 bezog er die Universität in Frankfurt a. O., wo er Theologie und Philosophie, dann aber die Rechte studierte. Damals schrieb er seinen Roman »Abällino, der große Bandit« (Frankf. 1794), der bald darauf dramatisiert (das. 1795) über die meisten Bühnen Deutschlands ging. 1792 habilitierte er sich in Frankfurt als Privatdozent, ergriff aber im Mai 1795 den Wanderstab und ließ sich im September 1796 in Graubünden nieder, wo er in Reichenau die Leitung einer Erziehungsanstalt übernahm. Z. schrieb hier die »Geschichte des Freistaats der drei Bünde im hohen Rätien« (Zür. 1798, 2. Aufl. 1817). Nach Aufhebung des von Z. glänzend in die Höhe gebrachten Instituts zu Reichenau infolge der Zeitumstände 1798 ward Z., auf der Seite der gemäßigten Patrioten stehend, in Aarau Deputierter bei den helvetischen und französischen Behörden, 1799 Chef für das Departement des Schulwesens und Regierungskommissar des helvetischen Vollziehungsrats in Unterwalden, später auch in Uri, Schwyz und Zug. Auch rief er einen Verein zur Förderung des Gemeinsinnes ins Leben und begründete den »Aufrichtigen Schweizerboten«, ein einflußreiches Volksblatt. 1800 zum Regierungskommissar ernannt, organisierte er die italienische Schweiz (Kanton Lugano und Bellinzona). Als Regierungsstatthalter des Kantons Basel, wo die Bewegungen wegen des Bodenzinses und Zehnten einen aufrührerischen Charakter angenommen hatten, warf sich Z. mit persönlicher Gefahr dem Aufstand entgegen und hatte die Genugtuung, daß die Aufständischen seiner beschwichtigenden Rede sich fügten (Oktober 1800). In seinen Mußestunden arbeitete er an den »Historischen Denkwürdigkeiten der helvetischen Staatsumwälzung« (Bern 1803 bis 1805). Als nach dem Lüneviller Frieden die Zentralregierung in Bern sich anschickte, den abgeschafften Föderalismus wiederherzustellen, nahm Z. seine Entlassung und lebte zurückgezogen seinen Lieblingswissenschaften. Im Frühjahr 1802 kaufte er sich dem Schloß Biberstein bei Aarau gegenüber ein ländliches Besitztum. 1804 ernannte ihn die Regierung des Kantons Aargau unter Erteilung des Staatsbürgerrechts zum Mitglied des Oberforst- und Bergamtes, in welcher Eigenschaft ihm zuletzt die Leitung des gesamten Forst- und Bergwesens anvertraut wurde. In dieser Stellung schrieb er: »Der Gebirgsförster« (Aarau 1804, 2 Bde.) und »Der Alpenwäldler« (Stuttg. 1804). Durch den 1804 wieder aufgenommenen und mit allgemeinem Beifall begrüßten »Aufrichtigen und wohlerfahrenen Schweizerboten« und nachher durch »Des Schweizerlandes Geschichte für das Schweizervolk« (Zür. 1822; 8. Aufl., Aarau 1849) wirkte er gesund, kräftig und nachhaltig auf die politische und sittliche Neugestaltung seiner zweiten Heimat. Die von ihm 1807–13 ununterbrochen herausgegebenen »Miszellen für die neueste Weltkunde« zeichneten sich durch Reichtum des Inhalts und treffendes Urteil aus. Daneben gab Z. seit 1811 die Monatsschrift »Erheiterungen« heraus, in der er den größern Teil seiner Erzählungen veröffentlichte. 1810 siedelte er von Biberstein nach Aarau über; in den Jahren 1813 und 1814 beschwor er das Feuer der Zwietracht mit Worten der Mäßigung und Vernunft, während er zugleich die Rechte und Freiheiten seines Kantons glänzend verteidigte. 1814 wurde er im Aargau in den Großen Rat der Gesetzgeber gewählt. Von Schlichtegroll aufgefordert, für die »Denkschriften der Münchener Akademie« einen Abschnitt der bayrischen Geschichte zu bearbeiten, schrieb er seine »Geschichte des bayrischen Volkes und seiner Fürsten« (Aarau 1813–18, 4 Bde.; 2. Aufl. 1821), die sich durch lichtvolle Anordnung und warme Darstellung auszeichneten. 1817 und 1818 erbaute er sich am linken Ufer der Aare, am Fuß des Jura, der Stadt Aarau gegenüber, ein anspruchsloses Landhaus, die »Blumenhalde«. Als Fortsetzung der »Miszellen für die neueste Weltkunde« erschienen die »Überlieferungen zur Geschichte unsrer Zeit« (Aarau 1817–23). Unterdessen waren Haß und Verleumdung unablässig gegen ihn tätig gewesen. Zwar überhäufte ihn sein neues Vaterland mit Ämtern aller Art, aber viele sahen in Z. nur den Mann der Revolution, einen Feind der Religion und bürgerlichen Ordnung und verdächtigten ihn auf der Kanzel und in Flugschriften und öffentlichen Blättern. Als Gesandter des Aargaues mußte Z. 1833 bei der Tagsatzung in Zürich zu dem Beschluß mitwirken, daß sich der Kanton in zwei ungleiche Hälften schied. Da der Verfassungsrat des Aargaues 1831 beschlossen hatte, daß jeder nicht geborne Schweizer von Staatsämtern ausgeschlossen sein sollte, trat Z. aus, wurde indes bei einer Umgestaltung der Dinge nochmals als Mitglied des Großen Rates berufen. Mehr und mehr aber zog er sich von der Öffentlichkeit und seinen Ämtern zurück, um sich mit Muße seinen literarischen Arbeiten widmen zu können. 1894 wurde ihm in Aarau ein Standbild (von A. Lanz) errichtet. Eine Reihe seiner Erzählungen sind gesammelt in den »Bildern aus der Schweiz« (Aarau 1824–25, 5 Bde.), den »Ausgewählten Novellen und Dichtungen« (11. Aufl., das. 1874, 10 Bde.) und der »Ährenlese« (das. 1844–47, 4 Bde.). Seine »Ausgewählten historischen Schriften« erschienen Aarau 1830, 16 Bde.; seine »Gesammelten Schriften« daselbst 1851–54, 35 Bde. in 3 Abtlgn. Das verbreitetste und wirksamste aller seiner Werke aber, als dessen Verfasser er sich später bekannte, sind seine »Stunden der Andacht« (Aarau 1809–16), der vollkommenste Ausdruck des modernen Rationalismus (37. Aufl. »nach den Bedürfnissen der Gegenwart revidiert und geordnet« von Emil Zschokke, 1903). Eine Art Selbstbiographie ist die »Selbstschau« (Aarau 1842; 7. Aufl. 1877, 2 Bde.). Obgleich Z. in seinen Novellen und Dichtungen weder neue Bahnen brach, noch die sozialen Fragen in seine Darstellungen aufnahm, sich überhaupt als poetischer Eklektiker zeigte, haben sie doch durch künstlerische Besonnenheit, ausgezeichnete Charakterschilderung und glückliche Lebendigkeit des Vortrags eine große Verbreitung gefunden, wie kaum andre Erzeugnisse dieser Art. Auszuzeichnen unter seinen Novellen und Volkserzählungen sind: »Alamontade der Galeerensklave«, »Die Herrnhuterfamilie«, »Der Narr des 19. Jahrhunderts«, »Der Abend vor der Hochzeit«, »Abenteuer einer Neujahrsnacht«, »Meister Jakob«, »Die Branntweinpest«, »Das Goldmacherdorf« (worin er mit Pestalozzis »Lienhard und Gertrud« wetteifert), »Der Freihof von Aarau« und »Addrich im Moos«. Zschokkes »Sämtliche Novellen« gab Vögtlin heraus (Leipz. 1904, 12 Bde.; auch Auswahl in 6 Bdn.). Vgl. Emil Zschokke, H. Z., ein biographischer Umriß (3. Aufl., Berl. 1876); Born, Heinrich Z. (Basel 1885); J. Keller, Beiträge zur politischen Tätigkeit H. Zschokkes 1798–1801 (Aarau 1887); Wernly, Vater Heinrich Z. (das. 1894); Schneiderreit, Heinrich Z., seine Weltanschauung und Lebensweisheit (Berl. 1903).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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