Staubeinatmungskrankheiten

Staubeinatmungskrankheiten

Staubeinatmungskrankheiten (Pneumonokoniosen), durch anhaltendes Einatmen staubreicher Luft erzeugte Krankheiten. Bei jedem Menschen dringt mit der Einatmungsluft Staub in die Luftwege ein; dabei wird viel Staub durch die Nasenschleimhaut, weniger schon durch Mund- und Rachenschleimhaut, auch durch Schnurrbart und die im Anfangsteil der Nasenhöhle sprossenden Haare, von dem Eindringen in die tiefern Luftwege abgehalten. Durch Respiratoren kann man diesen Schutz künstlich verstärken. Die Staubeinatmung ist um so stärker, je mehr die Mundatmung vorwiegt, um so schwächer, je mehr Nasenatmung besteht. Ein großer Teil des Staubes wird aus den Atmungswegen mit Hilfe des Flimmerepithels wieder herausgeschafft, ein andrer Teil wird in den Bronchialdrüsen, ein dritter Teil in der Lunge selbst abgelagert. Aus dem Straßenstaub findet man bei Erwachsenen in der Lunge 4–17 Teile Kieselstaub in 100 Teilen der Lungenasche, während die Lungen der Kinder in den ersten Lebensmonaten keinen Kieselstaub enthalten, bei Steinarbeitern aber der Kieselstaubgehalt bis 45, ja bis zu 64 Teilen steigt. Die Lungen Neugeborner sind rosenrot, diejenigen Erwachsener staubgrau mit hellern und dunklern Flecken. Hat ein Mensch ungewöhnlich viel Staub einzuatmen, so entwickelt sich je nach der Menge und nach der Gefährlichkeit des Staubes ein höherer und geringerer Grad von Pneumonokoniose. Graphitstaub, Krappwurzelstaub, Mehlstaub sind wohl ungefährlich, da sie weder reizen, noch der Herausbeförderung aus der Lunge Widerstand entgegensetzen. In geringem Grade reizend wirkt Wollstaub, Seiden-, Knochen-, Horn-, Elfenbein-, Baumwollen-, Hanf-, Flachs-, Jute-, Pflanzen-, Holz-, Kohlen- und Gipsstaub. In jeder einigermaßen erheblichen Quantität verletzende Staubarten sind: Lumpen-, Teppich-, Haar-, Fischbein-, Schildpattstaub, vor allem aber Sandsteinstaub, Granit-, Schiefer-, Tonstaub, dem Steinhauer, Steinmetzen, Steinbrecher, Steinklopfer ausgesetzt sind, wie auch der in der Porzellan- und Töpferindustrie sich entwickelnde Staub. Kohlenstaub färbt die Lunge schwarz (Kohlenlunge, Kohlensucht, Anthracocis pulmonum), Schleifstaub (Eisenoxyd) ziegelrot (Metallosis, Siderosis pulmonum, Eisenlunge); mineralischer Staub bedingt die Kiesellunge (Challeosis pulmonum, Aluminosis). Massenhafte Einatmung von Baumwollenstaub kann durch eine Art Entzündung der Lunge ein eigenartiges Krankheitsbild, die Baumwollenlunge (Byssinosis pulmonum), hervorrufen. Der eingeatmete Staub erzeugt chronischen Bronchialkatarrh, der bei Fortdauer der schädlichen Einwirkung an Intensität zunimmt und schwächend auf das Individuum wirkt. Bei der Chalicosis treten unter Schmerzen in Kehlkopf und Luftröhre quälender Husten und alle Zeichen des chronischen Bronchialkatarrhs auf. In schweren Fällen entstehen auch Geschwüre der Bronchialschleimhaut und Bronchialarterien. Bei Staubablagerung in den Lungen entstehen umschriebene Entzündungen, die schließlich zur Gewebsverdickung und damit zur Knötchen- und Knotenbildung führen. Die akute kruppöse Lungenentzündung entsteht durch Staubeinatmung nicht, ihre Entstehung wird aber durch den durch Staub einatmung erzeugten Reizzustand der Lunge begünstigt. Bei Fortdauer der chronischen Katarrhe, bei Beschränkung der Luftwege durch Verschluß kleiner Zweigäste und einer bald größern, bald kleinern Anzahl von Lungenzellen entsteht im weitern Verlaufe der Pneumonokoniose Emphysem. Vielfach wiederholen sich dann auch schubweise die umschriebenen Lungenentzündungen, deren Folgen endlich das Individuum (oft unter Auftreten eines Lungenödems) erliegt. Bei Knotenbildung in der Lunge kommen oft im Zentrum der Knoten steinige Konkremente (Pneumolithen, Lungensteine) vor, ebenso wie man solche bei Zementarbeitern in der Nase findet (Rhinolithiasis). Höchst gefährlich wird die Staubeinatmung, wenn sich mit der mechanischen Staubeinwirkung eine chemische Wirkung verbindet, wie beim Mahlen der Thomasschlacke, die neben phosphor- und kieselsauren Verbindungen etwa 50 Proz. Ätzkalk enthält; die Einatmung des Kalkes soll die oft beobachteten akuten, bösartigen und oft tödlichen Lungenentzündungen hervorrufen. Früher nahm man an, daß die Staubeinatmung Lungenschwindsucht hervorrufe, und man sprach von einer Steinmetzkrankheit, Schleiferkrankheit, von einem Schleiferasthma, dem Schwarzspucken u. dgl. und verstand darunter die aus einer Pneumonokoniose hervorgegangene Lungenschwindsucht. Einatmung von Staub kann aber nur dann Lungenschwindsucht hervorrufen, wenn in dem Staub Tuberkelbazillen enthalten sind. Anderseits schafft die Einatmung offensiven Staubes die Vorbedingung zur Infektion, den Lungenkatarrh, und begünstigt die Ausbreitung schon vorhandener Tuberkulose. Das Zusammenfallen von Tuberkulose und Pneumonokoniose ist daher sehr begreiflich; in den mit Staubentwickelung arbeitenden Berufen ist die Sterblichkeit an Schwindsucht doppelt so groß wie in den staubfreien Berufen, und in einzelnen Berufsarten tritt die Schwindsucht als fast ausschließliche Todesursache auf. Enthält der eingeatmete Staub die Krankheitserreger des Milzbrandes, der Pocken, des Flecktyphus etc., so können diese Krankheiten entstehen (s. Hadernkrankheit). Die Behandlung der S. muß eine symptomatische sein. Vor allem aber ist für Entfernung allen Staubes zu sorgen. Dies geschieht (in unvollkommener Weise) durch vorgebundene Tücher, besser durch sogen. Respiratoren, vor Mund und Nase gebundene staubfangende Apparate, die freilich oft bei der Arbeit hinderlich sind und von den Arbeitern nicht getragen werden, ferner durch Staubverhütung in den Gewerben. Vgl. Hirt, Die Krankheiten der Arbeiter (Leipz. 1871–78, 2 Tle.); Sommerfeld, Die Berufskrankheit der Steinmetzen etc. (Berl. 1892); Popper, Lehrbuch der Arbeiterkrankheiten (Stuttg. 1882); Gl ert et, Staubinhalationskrankheiten (in Pettenkofer-Ziemssens »Handbuch der Hygiene«, 3. Aufl., Leipz. 1882); Arnold, Untersuchungen über Staubinhalation und Staubmetastase (das. 1885); Rubner, Lehrbuch der Hygieine (8. Aufl., Wien 1907).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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