- Staatsbankrott
Staatsbankrott, derjenige Zustand der Staatswirtschaft, bei dem der Staat, sei es mit, sei es ohne ausdrückliche Erklärung, seine Schuldverbindlichkeiten nicht erfüllt oder sich Einnahmen verschafft, die mit der Verfassung oder doch mit einer gesunden Finanzverwaltung im Widerspruch stehen. Wie jeder Private, kann auch der Staat in die Lage kommen, daß er unfähig wird, seinen Verpflichtungen zu genügen. Die formellen Folgen, welche die Insolvenz dem Privatmann gegenüber hat, der Konkursprozeß, die Unfähigkeit zu eigner Vermögensverwaltung, treten alsdann freilich dem Staate gegenüber nicht ein, und es trägt demnach der S. den Charakter eines einseitigen Gewaltaktes. Er kommt in folgenden Formen vor: 1) Repudiation der Staatsschulden, d. h. die Erklärung, daß der Staat seine Schulden oder einen Teil derselben überhaupt nicht verzinsen oder zurückzahlen werde. Eine solche Weigerung kam früher oft beim Wechsel der Regierung vor, indem die neue Regierung die von der frühern eingegangenen Verpflichtungen als ungesetzlich erklärte (einzelne nordamerikanische Freistaaten 1841, Dänemark 1850, welches das Anlehen der vom Deutschen Bund in Schleswig-Holstein eingesetzten Bundesregierung nicht anerkannte, Frankreich zur Revolutionszeit); 2) Einstellung der Zahlungen auf unbestimmte Zeit; 3) einseitige, d. h. ohne das Angebot etwaiger Heimzahlung, also ohne die Zustimmung der Gläubiger, herbeigeführte Zinsreduktion; 4) einseitige oder verhältnismäßig zu hohe Besteuerung der Coupons der Staatsschulden, also eine verschleierte Herabsetzung des Zinsfußes, dies kann auch in der Form der Zahlung der Zinsen durch schlechte Münze oder entwertetes Papiergeld geschehen; 5) Ausgabe einer übermäßigen Menge Papiergeldes mit Zwangskurs oder minderwertiger Scheidemünzen. Vom moralischen Standpunkt muß jede Abweichung von der Erfüllung der staatlichen Verpflichtungen um so mehr verurteilt werden, als diese mit einer der ersten Aufgaben des Staates, der Wahrung der Rechtsordnung, in Widerspruch steht. Aber auch in finanzieller Beziehung ist sie zu mißbilligen, da sie für die Zukunft den Kredit des Staates erschwert und verteuert. Solide Staatsverwaltungen werden deshalb auch den Bankrott zu vermeiden suchen und sich bemühen, das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben durch wirtschaftliche Bemessung der letztern, Reorganisation der Verwaltung und zweckentsprechende Ausnutzung des Besteuerungsrechts herzustellen. Als Beispiele des Staatsbankrotts der jüngsten Zeit mag der S. der Türkei 1875 angeführt werden, der zur Folge hatte, daß nun ein Administrationsrat der Gläubiger selbst die Verwaltung der auswärtigen Schuld und die direkte Vereinnahmung der für deren Dienst abgetretenen Einkünfte übernahm. In neuester Zeit sind auch verschiedene mittel- und südamerikanische Staaten, dann 1892 Portugal, 1893 Griechenland ihren Schuldverpflichtungen nicht nachgekommen. Übrigens können sich auch in geordneten Staaten infolge unglücklicher Umstände Staatsbankrotte ereignen; so die Einstellung der Zinszahlung in Preußen 1806. Vgl. Meili, Der S. und die moderne Rechtswissenschaft (Berl. 1895); Pflug, S. und internationales Recht (Münch. 1898); Collas, Der S. und seine Abwickelung (Stuttg. 1904).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.