Pflanzenwachstum

Pflanzenwachstum

Pflanzenwachstum unterscheidet sich von dem Wachstum der Tiere, abgesehen von niedern Formen, vorzugsweise dadurch, daß jene einen Zustand des Ausgewachsenseins erreichen, in dem alle Organe in der der betreffenden Art zukommenden Zahl und Ausbildung vorhanden sind, während auch am erwachsenen Pflanzenkörper immer Bildungsgewebe (s. d.) vorhanden sind, von denen aus eine Entstehung neuer Organe fortgesetzt erfolgen kann. Man kann in bezug auf das Wachstum am Körper der höhern Pflanzen zweierlei Organe unterscheiden, nämlich solche, die wie die Blätter und die Blüten ein begrenztes Wachstum besitzen, und solche, die wie Wurzeln und die vegetativen Sproßachsen während der ganzen Lebensdauer unbegrenzt fortwachsen. Im Entwickelungsgange der Organe mit begrenztem Wachstum erkennt man leicht drei Wachstumsperioden: den embryonalen Zustand, in dem das nötige Baumaterial disponibel gemacht und vorzugsweise das Zellnetz angelegt wird; die Phase der Streckung, in der das Organ seine endgültige Größe und Gestalt annimmt, und die Periode der innern Ausbildung, während der seine Elemente in den Dauerzustand übergehen. Auch bei den Organen mit unbegrenztem Wachstum lassen sich die in ihrer Gesamtheit als die große Periode des Wachstums bezeichneten drei Entwickelungsphasen erkennen, wenn man die Betrachtung auf eine unmittelbar hinter der fortwachsenden Spitze gelegene Querscheibe des Organs lenkt, die, im embryonalen Zustand aus dem Bildungsgewebe hervorgehend, alsbald eine beträchtliche Streckung erfährt und endlich durch innere Ausbildung in den Zustand des Ausgewachsenseins übergeführt wird. Nur das an der Spitze des Organs gelegene Bildungsgewebe, der Vegetationspunkt, behält dauernd seine Entwickelungsfähigkeit; aus ihm geht nicht nur der alsbald in die große Wachstumsperiode eintretende Zuwachs des Organs selbst hervor, sondern der Vegetationspunkt liefert auch als Abkömmlinge neue Vegetationspunkte, die, dem auswachsenden Gewebe mitgeteilt, die Anlage seitlicher Organe und den Ursprung der Verzweigung darstellen. Außer an den Vegetationspunkten entstehen neue Organe gelegentlich als Adventivbildungen aus Bildungsherden, die nachträglich an bereits in Dauerzustand übergegangenen Teilen des Pflanzenkörpers auftreten.

Bei manchen niedern Pflanzen, deren Vegetationskörper aus einer einzelnen Zelle besteht oder einen nicht in Zellen gegliederten Schlauch darstellt, ist das P. durch eine Vermehrung des Inhalts und durch Flächenvergrößerung der denselben nach außen abschließenden Wand gegeben. Es können auch dabei, in dem das Wachstum der Wand auf bestimmte Regionen beschränkt wird, und indem der Zuwachs unter dem Einfluß äußerer und innerer Faktoren bestimmte Formgestaltung gewinnt, komplizierte Gebilde mit weitgehender, auf Arbeitsteilung in den Organen beruhender Differenzierung entstehen, wie die formenreiche Meeresalgengattung Caulerpa beweist, deren Arten trotz des einfachen anatomischen Baues ein kriechendes Rhizom mit wurzelartigen Haftorganen und mit mannigfach gestalteten Assimilationsorganen besitzen. Bei den Zellenpflanzen sind zwei das P. bedingende Vorgänge zu unterscheiden: die Vermehrung der Zellenzahl, die in den Bildungsgeweben durch fortgesetzte Zellteilungen (s. Pflanzenzelle) erfolgt, und das Wachstum der einzelnen Zelle. Auch in dem Wachstumsvorgang der einzelnen Zelle ist die in drei Phasen verlaufende große Periode des Wachstums erkennbar. Die jugendlichen Zellen, die im lückenlosen Verband aus dem Bildungsgewebe hervorgehen, besitzen zarte Zellwände und sind ganz von Protoplasma erfüllt. In der Periode der Streckung nehmen sie ihre endgültige Gestalt und Größe an, indem der Inhalt unter Ausbildung von Zellsaftvakuolen vermehrt wird und die Wand unter Aufnahme von Baust offen entsprechend der Inhalts zunahme an Flächenausdehnung gewinnt. Die Periode der innern Ausbildung gibt der wachsenden Zelle durch sekundäre Veränderungen der Wand und des Inhalts diejenige Beschaffenheit, die ihr entsprechend ihrer Stellung und Funktion in dem ausgewachsenen Gewebe des Pflanzenkörpers zukommt. Da in der Periode der Streckung jede einzelne Zelle nach Maßgabe des in ihr stattfindenden Flächenwachstums der Zellwand und der durch die Inhaltsvermehrung bewirkten Dehnung sich selbständig vergrößert, so kann es nicht ausbleiben, daß auch benachbarte Zellen in verschiedenem Maß an Ausdehnung gewinnen. Die Bildsamkeit der organischen Substanz, aus der die Zellwand besteht, gestattet es, daß die ungleich wachsenden Zellen aneinander hingleiten und Raum gewinnen, ohne daß es durch entstehende Spannungen zur Zerreißung des Gewebeverbandes kommt. Man bezeichnet diesen Vorgang als gleitendes Wachstum. Der durch die Inhaltsvermehrung erzeugte, die Zellwand dehnende Innendruck (Turgor) bedingt in jeder Zelle das Bestreben, ihren Gesamtumriß nach Möglichkeit abzurunden. Auch diesem Bestreben wird durch die Bildsamkeit der Zellwandsubstanz Rechnung getragen, indem die Zellwände an den Kanten der Zellen sich spalten, so daß Interzellularräume entstehen, die schließlich durch den ganzen Pflanzenkörper ein System von lufthaltigen Hohlräumen darstellen. Der durch das gleitende Wachstum und die Zellwandspaltung bewirkte Ausgleich der Spannungen zwischen benachbarten Zellen hindert nicht, daß durch ungleichmäßiges Wachstum ganzer Gewebekomplexe oder auch nur durch die Verschiedenheit des Turgors in ihren Zellen im Pflanzen körper Gewebespannungen zustande kommen, die wesentlich zur Festigung krautartiger Pflanzenteile beitragen. Isoliert man in kräftig wachsenden Krautstengeln die einzelnen Gewebepartien, so verkürzt sich gewöhnlich die Oberhaut gegenüber dem Rindengewebe, während das Mark sich bisweilen um mehrere Prozent seiner ursprünglichen Ausdehnung verlängert. Es ergibt sich daraus, daß die Oberhaut vor der Isolierung der Teile passiv gedehnt (Zugspannung), das Mark dagegen an der Ausdehnung gehindert war (Druckspannung). Ähnliche Spannungsverhältnisse sind auch in der Querrichtung der Achsen zu konstatieren.

Zum Messen der Zuwachsgröße bedient man sich besonderer die Wachstumsgröße in der Zeiteinheit vergrößert anzeigender und auch wohl selbständig registrierender Apparate (Auxonometer). Mit Hilfe derselben läßt sich nachweisen, daß auch, abgesehen von der in der großen Periode zum Ausdruck kommenden Änderung, die Wachstumsin tensität Schwankungen unterworfen ist, die von äußern Ursachen beeinflußt werden. Änderungen der Temperaturhöhe, der Beleuchtungsintensität, des Feuchtigkeitsgrades der Luft und des Bodens etc. können den Zuwachs vergrößern oder verringern oder auch ganz sistieren. Man unterscheidet hinsichtlich der direkten Einwirkung der äußern Umstände auf das P. drei Intensitätsgrade als sogen. Kardinalpunkte. Das Minimum bezeichnet denjenigen niedersten Intensitätsgrad der äußern Faktoren, bei dem überhaupt noch ein P. stattfindet; das Optimum bezeichnet denjenigen mittlern Stärkegrad der Lebensbedingungen, bei dem das P. die größte Intensität erreicht, und das Maximum gibt die obere Grenze der äußern Einwirkung an, oberhalb der kein Zuwachs der Pflanze mehr bemerkbar ist. Die Lage der Kardinalpunkte ist für die einzelnen Pflanzen und Pflanzenteile je nach den Lebensumständen, denen ihre Organisation angepaßt ist, verschieden. Die Gesamtheit der äußern Faktoren, die in dem Wechsel von Tag und Nacht zum Ausdruck kommen, beeinflußt bei den meisten Pflanzen das Wachstum in der Weise, daß die Wachstumsintensität sich während der Nacht bis zum Morgen hin steigert und im Laufe des Tages bis zum Abend hin wieder abnimmt. Diese als Tagesperiode bezeichnete Wachstumsschwankung ist indes nicht ganz auf Rechnung des Wechsels der äußern Wachstumsbedingungen zu setzen, sie findet vielmehr aus innern Gründen statt und setzt sich auch fort, wenn die Pflanzen vorübergehend in vollkommner Dunkelheit und bei gleicher Wärme und Feuchtigkeit gehalten werden. Der Wechsel der äußern Bedingungen reguliert aber den zeitlichen Verlauf der Schwankungen, der bei konstanten Bedingungen bald von dem Tageslaufe abweicht. In ähnlicher Weise wie bei dem Zustandekommen der Tagesperiode treten bei den mehrjährigen Gewächsen unsrer Breite jährliche Wachstumsschwankungen ein (Jahresperiode), die sich am auffälligsten bei unsern Laubholzgewächsen in dem Laubausbruch nach der Winterruhe und in dem Laubfall im Herbst bemerkbar macht, aber auch in der im Frühling steigenden, gegen den Sommer hin abnehmenden Zuwachsgröße der Sprosse und Wurzel und in der Jahrringbildung des Holzkörpers zum Ausdruck kommt. Auch hier bewirkt der Einfluß der äußern Faktoren nun eine zeitliche Regulierung der in der Natur der Pflanzen begründeten periodischen Schwankung.

Die Wachstumsrichtung und die Formgestaltung, welche die Pflanze durch das Wachstum erreicht, sind zum größten Teil bedingt durch innere in der Organisation des Pflanzenkörpers gelegene Faktoren. Auf ihnen beruht der wechselseitige Einfluß, den die wachsenden Pflanzen leile auseinander ausüben (Korrelation), und vor allen Dingen auch die Polarität (s. d.), die den Grundplan für den Aufbau aller höhern Pflanzen liefert, und ferner auch die spezifische Reizbarkeit, durch die sich der Pflanzenkörper mit der Außenwelt in Beziehung setzt. Ein Ausdruck dieser spezifischen Reizbarkeit sind einmal die als Tropismen (Geotropismus, Heliotropismus etc.) bezeichneten Reizbewegungen der wachsenden Pflanzenteile (s. Pflanzenbewegung), ferner gehören dahin die Beeinflussungen der Wuchsform durch die von außen kommenden Reize. Auch abgesehen von der rein mechanisch modellierenden Wirkung, die feste Widerstände an wachsenden Pflanzenteilen ausüben, wie z. B. bei Abplattung der Wurzeln in Gesteinsspalten, oder bei Annahme künstlicher Formen bei Kürbisfrüchten, die im jugendlichen Zustand in Glasflaschen eingeführt wurden, können mechanische Berührungen eine Gestaltveränderung hervorrufen. So bildet sich bei gewissen Ampelopsis-Arten die Spitze der Ranken nur, wenn sie mit einer festen Unterlage in Berührung tritt, zu einer Haftscheibe um. Man bezeichnet derartige Gestaltbildung unter dem Einfluß mechanischer Reize als Mechanomorphosen. Chemomorphosen sind die Formgestaltungen, die sich unter dem Einfluß von äußern Verhältnissen chemischer Natur, wie Zusammensetzung und Aggregatzustand des umgebenden Mediums, Feuchtigkeitsgehalt der Luft, Gehalt des Bodenwassers an Elementarstoffen etc., vollziehen. Die nach der Wassertiefe wechselnde Länge der Blattstiele bei den Wasserrosen, die Ärenchymbildung (s. Durchlüftungsgewebe) an untergetauchten Pflanzenteilen, das Auftreten besonderer Land- und Wasserformen bei amphibischen Gewächsen sind bekannte Beispiele, auch die meisten Gallenbildungen (s. Gallen) gehören hierher. Als Barymorphosen bezeichnet man die unter dem Einfluß der Schwerkraft stehenden Gestaltbildungen: der Hauptsproß und die Hauptwurzel der meisten Gewächse sind unter dem Einfluß der Schwerkraft geradwüchsig (orthotrope Organe), während die Seitenachsen und die Blätter seitenwändig (plagiotrop) sind; an horizontal oder schräg gerichteten Zweigen ist entweder die Unterseite stärker in die Dicke gewachsen (Hyponastie), oder es hat umgekehrt an der Oberseite der stärkste Zuwachs stattgefunden (Epinastie). Sehr zahlreich sind die durch Lichtreize induzierten Photomorphosen. So sind in manchen Fällen die Verschiedenheiten der Bauch- und Rückenseite (Dorsiventralität) an plagiotropen Pflanzenteilen und das Auftreten von zweierlei Blattformen (Anisophyllie) experimentell auf die Reizwirkung des Lichtes am wachsenden Organ zurückgeführt worden. Die Klettersprosse des Efeu bilden ihre Haftwurzeln nur an der Schattenseite aus; die Sprosse der Opuntien gewinnen ihre flachscheibenförmige Gestalt nur unter dem Einfluß des Lichtes; an der rundblätterigen Glockenblume (Campanula rotundifolia) treten im schwachen Licht langgestielte Blätter mit runder Spreite, in heller Beleuchtung schmale, kurzgestielte Blätter auf. Auch für die normale Blütenbildung ist die Lichtintensität von Einfluß, Lichtmangel ist in der Regel die Ursache dafür, daß manche Gewächshaus- und Zimmerpflanzen dauernd blütenlos bleiben. In sehr auffälliger Weise macht sich der gestaltbildende Einfluß der äußern Umstände bemerkbar in dem Unterschiede der Berg- und Tal formen mancher Gebirgspflanzen (s. Alpenpflanzen). Auch die Verzwergung (der Nanismus), d.h. die Verringerung der Dimensionen aller Organe und die Verarmung des Verzweigungssystems, die unter gewissen Bedingungen bei manchen Pflanzen auftritt, ist auf die Einwirkung äußerer Faktoren zurückzuführen, ein Umstand, den die Gartenkunst der Japaner und Chinesen von alters her zur künstlichen Aufzucht von Zwergpflanzen zu verwerten weiß.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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