Morphinismus

Morphinismus

Morphinismus (Morphiumsucht), ein durch längere Zeit fortgesetzten Mißbrauch von Morphium hervorgebrachter krankhafter Zustand. Nicht alle Menschen unterliegen der Gefahr im gleichen Maße; besonders sind charakterschwache Menschen zur krankhaften Morphiumsucht disponiert und verfallen leicht und rasch der angenehm belebenden, Wohlbehagen erregenden Wirkung des Giftes, die beim normalen Menschen weniger ausgeprägt ist, oft auch vermißt wird, so daß bei solchen eine Morphiumeinspritzung eher Unbehagen und Katzenjammer erzeugt. In letzterm Fall wird durch notgedrungene längere Morphiumdarreichung zwar auch eine Gewöhnung an Morphium, chronischer M., erzeugt, dagegen weniger leicht jene körperliche und seelische Krankheit, die sich vor allem in krankhafter Sucht nach Morphium kennzeichnet. Die häufigste Veranlassung zur Morphiumsucht sind schmerzhafte körperliche und deprimierende oder erregende seelische Krankheiten und Schlaflosigkeit. Die innerliche Darreichung des Morphiums führt wegen seiner weniger präzisen Wirkung nicht so leicht zum Morphiummißbrauch wie die Einspritzung unter die Haut. Schwerere Organerkrankungen werden durch die chronische Morphiumvergiftung nicht hervorgerufen, dagegen werden die Funktionen vieler Organsysteme, namentlich des gesamten Nervensystems, tiefgreifend gestört. Auffallend ist zunächst die starke Veren gerung der Pupille (Miosis), eine Erscheinung, die zur Erkennung des M. wichtig ist. Erschwerung der Blasenentleerung, verminderte Bewegung der Därme, Zittern und Schwäche der Muskulatur sind ebenfalls häufig. Die Drüsentätigkeit liegt danieder, es wird also z. B. die Speichelsekretion geringer. Der Appetit und die Verdauung sind oft schwer gestört, die Ernährung der Haut, der Haare (die ergrauen und ausfallen), der Zähne wird geschädigt. Noch wichtiger sind die Veränderungen des Seelenlebens. Neben Halluzinationen und Angstzuständen treten besonders hervor Abnahme der Intelligenz, Abstumpfung des Gefühlslebens und vor allem eine schwere Schädigung des Charakters, der Moral. Es tritt eine Umwertung der ethischen Werte ein, Ehrgefühl, Wahrhaftigkeit schwinden, die krankhafte Sucht nach Morphium überwiegt alle Vorstellungen und treibt den Kranken zu Betrug, Rezeptfälschung und allen Schleichwegen, um zu Morphium und zu weiterer Befriedigung seines Bedürfnisses zu gelangen. Seltener sind wirkliche Psychosen (Verfolgungswahn). Bei fortgesetztem Mißbrauch des Morphiums, das sich der Kranke in immer größern Mengen und kürzern Zeiträumen einspritzt, entwickelt sich ein immer stärkerer, schließlich tödlicher Marasmus. Geheilt werden kann die Morphiumsucht, wenn sie erst entwickelt ist, nur durch methodische Entziehung in eigens hierzu eingerichteten, unter erfahrener ärztlicher Leitung stehenden Anstalten, da genaueste Kontrolle und andauernde ärztliche Beaufsichtigung erforderlich ist. Die Entziehung wird erschwert durch das Auftreten von Abstinenzsymptomen, d.h. Erscheinungen, die auf die nachlassende Wirkung und den Mangel des Morphiums, dessen der Organismus als eines gewohnten Reizmittels zunächst bedarf, zurückzuführen sind. Die wichtigsten Abstinenzerscheinungen (die eben den Patienten zu immer neuem Morphiumgebrauch zwingen) sind: Kopfschmerzen, Neuralgien, schwere Magen- und Darmstörungen, Kollaps durch Herzschwäche, Aufregung, Angst, Delirien. Die Entziehung des Morphiums kann entweder plötzlich unternommen werden, was unter Umständen rasch zum Ziele führt, aber gefährliche Abstinenzerscheinungen (besonders Herzschwäche) zur Folge haben kann, oder durch ganz allmähliche Verringerung der Morphiumgaben. Besonders bewährt ist eine nicht plötzliche, aber schnelle Entziehung durch rasche Minderung der Gaben. Die Kur wird unter strengster Beaufsichtigung und besonders sorgfältiger Beachtung der Nahrungszufuhr und der Verdauung vorgenommen. zumal die Magenschleimhaut durch den M. und die Abstinenzsymptome schwer in Mitleidenschaft gezogen wird; es erfolgt nämlich die Ausscheidung des eingespritzten Morphiums zum großen Teil durch die Schleimhaut des Magens in dessen Inneres. Bei Herzschwäche ist eine etwas größere Morphiumgabe das beste Reizmittel. Die Entziehung durch zeitweisen Ersatz des Morphiums durch ähnliche Mittel (Kodein, Kokain) ist gefährlich. Vgl. die Schriften von Levinstein (3. Aufl., Berl. 1883), Erlenmeyer (3. Aufl., Neuwied 1887), Burkart (Bonn 1880 und 1882), Emmerich (2. Aufl., Berl. 1897), Fromme (2. Aufl., Leipz. 1898), Knips-Hasse (Berl. 1899), Leibold (das. 1899), Deutsch (Stuttg. 1901); Rodet, Morphinomanie et morphinisme (Par. 1898).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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