Anklageprozeß

Anklageprozeß

Anklageprozeß, diejenige Art des Strafverfahrens, wobei eine besondere, vom Gericht getrennte Person, ein öffentlicher oder Privatankläger, fortwährend teilnimmt, indem er den Antrag auf öffentliche Bestrafung des Verbrechers stellt, die Lieferung der Schuldbeweise gegen ihn übernimmt und die Verurteilung in die gesetzliche Strafe zu erwirken sucht. Durch diese Teilnahme des Anklägers und durch die Anerkennung auch des Angeklagten als eines selbständigen Prozeß subjektes unterscheidet sich der A. von dem sogen. Untersuchungs- oder Inquisitionsverfahren, wobei der Richter bei begangenen Verbrechen von Amts wegen einschreitet, die Untersuchung allein durchführt und der Angeschuldigte lediglich als Objekt dieser Untersuchung behandelt wird. Die frühere deutsche Reichsgesetzgebung hatte diese beiden heterogenen Arten des Strafverfahrens nebeneinander bestehen lassen, bis nach 1848 fast in allen deutschen Ländern ein gewissermaßen gemischtes System zur Geltung gelangte. Weiter ist zu unterscheiden zwischen dem Privatanklageprozeß, worin jeder selbständige Bürger als Ankläger auftreten darf, und dem eine ständige Organisation einer Anklagebehörde voraussetzenden Offizialanklageprozeß. Das älteste germanische Recht stellte als obersten Grundsatz des Kriminalverfahrens die Regel auf: Ohne Kläger kein Richter. Hier war also nur der Privatanklageprozeß statuiert. Allmählich aber bildete sich, besonders durch den Einfluß des kan on ischen Rechts, neben dem Anklageverfahren das Untersuchungsverfahren aus. Es entstand nämlich die Besorgnis, daß bei dem reinen A. oft in Ermangelung eines Anklägers ein Verbrechen straflos bleiben möchte, daher das sogen. Klagen von Amts wegen vorerst nur für größere Verbrechen, später aber allgemeiner zur Pflicht gemacht wurde. Auch gingen die geistlichen Gerichte von der Ansicht aus, daß die Kirche ein allgemeines Aufsichtsrecht über alle Gläubigen ausüben, daher ihren verborgenen Vergehen nachspüren und sie zur Buße und Strafe bringen müsse. Das kanonische Recht kennt schon drei Arten des Strafverfahrens als nebeneinander zulässig: die Accusatio oder den reinen A., die Denunciatio oder den Denunziationsprozeß, wobei der durch ein Verbrechen Betroffene dem Richter das begangene Verbrechen zur Untersuchung und Bestrafung von Amts wegen anzeigt, und die Inquisitio oder den Untersuchungsprozeß. So sind auch die meisten Artikel der peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532 sowohl auf das Anklage- als das Untersuchungsverfahren anwendbar. Immer mehr über neigte sich das alte Anklageverfahren zum Untersuchungsverfahren hin, und allmählich trug im Einklang mit der ganzen politischen sowie mit der materiellen Rechtsentwickelung, obgleich das deutsche gemeine Recht den A. nie abschaffte, sondern allen Bürgern das Recht der Kriminalanklage ließ, dennoch in der Praxis in ganz Deutschland das inquisitorische Verfahren den Sieg davon.

Seit dem Anfang des 19. Jahrh. hat man die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens in Frage gestellt und nach dem Muster der englischen und französischen Strafprozeßgesetzgebung einem Verfahren den Vorzug gegeben, das gewissermaßen zwischen beiden ältern Verfahrensarten in der Mitte steht: es ist dies das sogen neuere Offizialanklageverfahren, beruhend auf dem Institut der Staatsanwaltschaft. Vorbildlich war dabei der französische Strafprozeß in der von Napoleon I. 1808 geschaffenen Gestalt. Der Richter darf hiernach eine strafrechtliche Untersuchung in der Regel erst dann einleiten, wenn der Ankläger einen hierauf gerichteten Antrag eingereicht hat. Ankläger ist in der Regel der Staatsanwalt, ein aus der Reihe der Justizbeamten eigens hierzu bestellter Beamter. Dieser ist verpflichtet, abgesehen von den sogen. Antragsdelikten (s. d.), bei allen zu seiner Kenntnis kommenden Straftaten, einerlei, auf welche Weise er zu dieser Kenntnis gelangt, von Amts wegen dafür zu sorgen, daß sie untersucht und bestraft werden, zugleich aber auch zu wachen, daß niemand schuldlos verfolgt werde. Er vertritt den durch die Straftat verletzten Staat und hat darauf zu sehen, daß die Untersuchung den gesetzlichen Gang einhalte und alle zweckdienlichen Mittel benutzt werden. Diesen in Deutschland seit 1848 vorherrschend gewordenen Grundsätzen sind trotz mancher auf den Juristentagen gegen die Staatsanwaltschaft hervorgetretener Bedenken auch das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz und die Reichsstrafprozeßordnung treu geblieben. Im Vergleich zum französischen Recht sind die Machtvollkommenheiten der Staatsanwaltschaft mannigfach beschränkt worden; doch hat die österreichische Strafprozeßordnung von 1873 die Grundsätze des strengen Anklageprozesses, wonach die Anklagebehörde als Prozeßpartei behandelt wird, in reinerer Gestalt durchgeführt. Nur ausnahmsweise ist in Deutschland und Österreich für geringfügige Straffälle die Privatanklage gestattet. In diesen Fällen (§ 414 ff. der deutschen Strafprozeßordnung [Beleidigungen, Körperverletzungen, soweit die Verfolgung nur auf Antrag eintritt]) hat der durch die Straftat Verletzte das Recht der Verfolgung durch Privatklage, ohne daß es einer vorgängigen Anrufung der Staatsanwaltschaft bedarf (sogen. prinzipale Privatklage). Die öffentliche Klage wird hier nur erhoben, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt. Sehr beachtungswürdig sind die Einrichtungen des englischen und namentlich des schottischen Strafverfahrens. Während in England auch nach der Schöpfung einer öffentlichen Anklagebehörde (director of public prosecutions) die Privatanklage die allgemeine Regel bleibt, besteht in Schottland die sogen. subsidiäre Privatklage. Danach wird, wenn der öffentliche Ankläger (Lord Advocate) das Einschreiten wegen einer Straftat verweigert, die Privatklage durch andre Personen zugelassen. Hierfür spricht namentlich die Rücksicht, daß die administrative Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von den jeweiligen Justizministerien und der politisch herrschenden Richtung einer ergänzenden Korrektur durch freie staatsbürgerliche Anklagetätigkeit dringend bedürftig erscheint. Die österreichische Strafprozeßordnung vom Jahre 1873 hat denn auch den Grundsatz der Subsidiaranklage angenommen (§ 48). Im geltenden deutschen Recht fand dagegen die subsidiäre Privatklage keine Ausnahme. Doch ist durch die dem Verletzten eingeräumte Möglichkeit, die Staatsanwaltschaft durch die Gerichte zur Erhebung der öffentlichen Klage zwingen zu lassen (§ 170 ff. der Strafprozeßordnung), einiger Ersatz für sie geboten.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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