Gemeinde

Gemeinde

Gemeinde, im allgemeinen Bezeichnung für jedes räumlich begrenzte Gemeinwesen, namentlich Gemeinwesen politischer Art. In der Regel versteht man unter G. entweder die Kirchengemeinde (s.d.) oder das politische Gemeinwesen, das für einen bestimmten Teil des Staatsgebiets zur Förderung und Verwirklichung örtlicher Gemeinzwecke besteht, vorzugsweise aber die politische Ortsgemeinde oder Kommune. Diese ist zugleich öffentliche Körperschaft und Persönlichkeit des bürgerlichen Rechts. In der erstern Eigenschaft hat sie einen doppelten Wirkungskreis: einerseits die Verwaltung ihrer eignen besondern Angelegenheiten, anderseits die Besorgung staatlicher Verwaltungsgeschäfte (eigner, übertragener Wirkungskreis). Die wichtigste eigne Gemeindeangelegenheit ist die Führung des Gemeindehaushalts (s.d.). Das Recht der Autonomie (Erlaß von Ortsstatuten) kommt der G. innerhalb der gesetzlichen Grenzen zu. Neben den politischen Gemeinden haben sich in Deutschland Überreste der alten Markgemeinden erhalten, die gemeinsames Land gemeinschaftlich besaßen und bewirtschafteten. So erklärt sich in manchen Gegenden und in einzelnen Gemeinden der Unterschied zwischen der politischen G. und einer Allmand-, Alt-, Nutzungs-, Realgemeinde etc., indem die letztere diejenigen Flurgenossen umfaßt, die in ausschließlicher Weise an dem Vermögen dieser Sondergemeinden beteiligt sind (s. Allmande). Zur Erfüllung mancher Verwaltungsaufgaben reichen die Kräfte der Einzelgemeinde nicht aus; vielfach bestehen daher Gemeindeverbände für besondere Zwecke, wie Schulgemeinden, Wege-, Armen-, Deichverbände etc. Zu der politischen Einzelgemeinde aber treten die Gemeindeverbände höherer Ordnung hinzu, wie sie sich insbes. in der preußischen Dreiteilung in Provinz, Bezirk und Kreis darstellen (s. Kreis). Auch zur Ausübung der Ortspolizei bestehen in Preußen besondere Gemeindeverbände, die Amtsbezirke, mit einem Amtsvorsteher (s.d.) an der Spitze. Ähnliche Einrichtungen wie die preußischen Gemeindeverbände bestehen übrigens auch in den meisten größern deutschen Staaten. In großen Gemeinden werden Bezirke mit einer gewissen korporativen Selbständigkeit abgegrenzt, während umgekehrt mehrere kleinere Gemeinden ohne Aufhebung ihrer Sonderpersönlichkeit für gewisse Gemeindezwecke zu einem Verbande (Gesamtgemeinde) vereinigt sind. Solche Verbände und die Bürgermeistereien, eine aus dem französischen Recht stammende Einrichtung, die etwa dem oben erwähnten Amtsbezirk entspricht. Gesamtgemeinden kommen in Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen, auch in den preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen vor. Für die Gemeindeverfassung ist der Unterschied von Stadt- und Landgemeinde wichtig (s. Bürger, S. 620); manche Gesetzgebungen kennen in den Märkten oder Flecken eine Zwischengattung zwischen Stadt- und Landgemeinde.

Die deutsche Gemeindegesetzgebung ist nichts weniger als gleichheitlich. Das preußische Gemeinderecht hat keine einheitliche Regelung für das ganze Königreich erfahren. In den Städten der allen Provinzen (mit Ausnahme von Vorpommern und Rügen) gilt noch die Städteordnung vom 30. Mai 1853, in den Landgemeinden die Landgemeindeordnung vom 3. Juli 1891; in Westfalen gelten die Städte- und die Landgemeindeordnung vom 19. März 1856; in der Rheinprovinz besteht für die größern Städte das Gesetz vom 15. Mai 1856, für die andern Gemeinden die Gemeindeordnung vom 23. Juli 1845 mit einigen Änderungen; in Schleswig-Holstein gilt für Städte und Flecken das Gesetz vom 14. April 1869, für das Land die Landgemeindeordnung der alten Provinzen; die Stadt Frankfurta. M. hat ein Gemeindeverfassungsgesetz vom 25. März 1867. In freisinnigem Geist sind abgefaßt die beiden Gemeindeordnungen für Bayern (diesseit des Rheins und die Pfalz), vom 29. April 1869, Sachsen, Landgemeindeordnung und Städteordnungen vom 24. April 1873, Baden, Gemeindeordnung und Bürgerrechtsgesetz vom 31. Dez. 1831 und 15. Mai 1870, Städteordnung vom 26. Juni 1874, Hessen, Städteordnung und Landgemeindeordnung vom 13. und 15. Juni 1874, und das österreichische Gemeindegesetz vom 5. März 1862. Für Elsaß-Lothringen ist 1894 eine neue Gemeindeordnung geschaffen worden. Frankreich dagegen hat seit 1872 in der Gesetzgebung noch weitere Rückschritte gemacht, da jetzt die Gemeindevorsteher (mairẹs) ganz unter die Gewalt der Staatsregierung gestellt sind.

Die Bildung einer G. kann nur mit staatlicher Genehmigung erfolgen; in Baden, Braunschweig und andern Ländern ist sogar ein Gesetz hierzu erforderlich. Die Gemeindeangehörigkeit, die im weitesten Sinn in dem Recht besteht, an den öffentlichen Gemeindeanstalten teilzunehmen, und in der Pflicht, die Gemeindelasten mit zu tragen, ist entweder die von Rechts wegen eintretende Folge der unter bestimmten polizeilichen Voraussetzungen jedem gestatteten Niederlassung, oder sie wird durch Aufnahme erworben, die jedoch seit dem Freizügigkeitsgesetz vom 1. Nov. 1867 einem Deutschen nur unter genau bestimmten Voraussetzungen, z. B. wegen Erwerbsunfähigkeit, verweigert werden darf (s. Freizügigkeit). Mit der Gemeindeangehörigkeit ist aber nicht immer auch das Bürgerrecht (Ortsbürgerrecht, Gemeinderecht) gegeben, d. h. das Recht, in Gemeindeangelegenheiten abzustimmen, zu wählen und gewählt zu werden und am Gemeindevermögen teilzunehmen; vielmehr knüpfen viele Gemeindegesetze das Bürgerrecht an die Aufnahme durch die Gemeindebehörde und die Aufnahmeberechtigung an gewisse Bedingungen, z. B. Heimatsrecht oder zweijährigen Wohnsitz in der G., verbunden mit Steuerzahlung. In manchen Ländern kann die G. für die Verleihung des Bürgerrechts auch eine Abgabe (Bürger-, Einzugs-, Nachbargeld) erheben, so in Sachsen, Hessen, einigen thüringischen Staaten und im rechtsrheinischen Bayern. Für die Teilnahme an dem Bürgernutzen (Allmande) muß meistens noch ein besonderes Einkaufsgeld bezahlt werden. Wo diese Teilnahme an den Besitz von Grundstücken gebunden ist, bleibt dies Verhältnis unberührt. In Preußen, Baden und in der bayrischen Pfalz besteht das System, wonach unter den gesetzlichen Voraussetzungen das Gemeinderecht durch bloße Niederlassung und Aufenthalt im Gemeindebezirk erworben wird ohne besondere und ausdrückliche Aufnahme in den Gemeindeverband. Die Staatsangehörigkeit ist in allen Staaten Voraussetzung des Erwerbs des Bürgerrechts. Jede G. hat ein bestimmtes Gebiet, den Gemeindebezirk oder die Gemeindeordnung, bei Städten auch Burgfriede oder Weichbild geheißen.

Die Gemeindeverfassung ist in den verschiedenen Staaten und in den einzelnen Landesteilen der größern Staaten außerordentlich verschieden. In Preußen wurden durch Gesetz vom 20. Juli 1899 Anstellung und Versorgung der besoldeten Kommunalbeamten einheitlich geregelt. Die Verwaltung der G. führt der Gemeindevorstand, sei es ein einzelner Gemeindevorsteher (Bürgermeister, Schulze, Schultheiß, Richter, Dorfrichter), sei es ein Kollegium (Magistrat, Gemeinderat, Stadtrat, Gemeindevorstand, Gemeindeausschuß). In dem ersten Fall stehen dem Gemeindevorstand Beigeordnete, ein zweiter Bürgermeister, Schöffen zur Seite, so namentlich in den Landgemeinden Norddeutschlands. Der Gemeindevorstand wird regelmäßig von der Gemeindevertretung gewählt und zwar auf eine bestimmte Reihe von Jahren. Nach andern Gemeindeordnungen dagegen, insbes. nach den meisten Städteordnungen hat der Gemeindevorstand kollegiale Verfassung. Der Bürgermeister, in den größern Städten vielfach durch den Titel »Oberbürgermeister« ausgezeichnet, hat hier nur die Stellung eines Vorsitzenden des Vorstandskollegiums, das er auch nach außen vertritt. Sein Vertreter ist der zweite Bürgermeister oder Beigeordnete. Das Magistratskollegium besteht aus besoldeten und unbesoldeten Stadträten, die von der Stadtverordnetenversammlung regelmäßig auf eine bestimmte Reihe von Jahren gewählt werden und in der Regel der Bestätigung der Regierung bedürfen. In der Rheinprovinz besteht kein Kollegialsystem, sondern nach französischem Muster führt der Bürgermeister mit den nötigen Gemeindebeamten die Gemeindeverwaltung. In Städten kann jedoch ein kollegialer Magistrat eingeführt werden. Regelmäßig ist der Ortsvorstand auch mit gewissen staatsobrigkeitlichen Funktionen betraut, so daß er insoweit, z. B. als Standesbeamter, Amtsanwalt, Polizeirichter u. dgl., als mittelbarer Staatsbeamter erscheint. Eine Gemeindegerichtsbarkeit besteht nur noch in ganz geringem Umfang (s. Gemeindegerichte).

Die Gemeindevertretung gegenüber der Gemeindebehörde ist nur in kleinen Gemeinden die Gemeindeversammlung selbst, die sich aus den stimmberechtigten Gemeindebürgern zusammensetzt. Die Regel aber, namentlich in den Stadtgemeinden, bildet die Vertretung durch eine repräsentative Körperschaft (Stadtverordnetenversammlung, Gemeinderat, Stadtrat, Schöffenrat, Gemeindeausschuß, franz. Conseil municipal). Das Wahlsystem, auf Grund dessen die Gemeindevertretung gewählt wird, ist außerordentlich verschieden. Vgl. außer den Lehrbüchern des Staatsrechts: v. Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland (Erlang. 1869–71,4Bde.); Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1 (Berl. 1868); Stolp, Die Gemeindeverfassungen Deutschlands (das. 1870–75, 6 Bde.) und für die einzelnen deutschen Staaten v. Stengel, Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts, Bd. 1, S. 495 mit 548 (Freiburg 1894).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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