Zentrum [2]

Zentrum [2]

Zentrum (Zentrumspartei), in der Politik die Fraktion einer parlamentarischen Körperschaft, die zwischen der Rechten (konservativen) und der Linken (liberalen Partei) eine mittlere Parteistellung einnimmt und dies auch äußerlich durch die Wahl der Plätze in der Mitte des Sitzungssaales zu erkennen gibt. Dabei wird zuweilen noch zwischen linkem und rechtem Z. unterschieden; in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 z. B. bildeten »Kasino« und »Landsberg« das rechte Z., während der »Württemberger Hof« als linkes Z. bezeichnet wurde. Gegenwärtig nennt sich Z. oder Zentrumspartei die ultramontane Partei im deutschen Reichstag, im preußischen Abgeordnetenhaus, in der bayrischen (seit 1887) und in der württembergischen Zweiten Kammer. Schon 1860 hatte sich eine Gruppe katholischer Abgeordneten unter den Brüdern Reichensperger Z. genannt; dieser Name war aber, als sich infolge des Verfassungskonflikts die Parteien anders gruppierten, wieder in Vergessenheit geraten. Erst als nach dem Vatikanischen Konzil und dem Untergang des Kirchenstaates (1870) die Ultramontanen, von neuem als politische Partei. bei den Landtagswahlen 16. Nov. 1870 und den Wahlen zum ersten deutschen Reichstag 3. März 1871 nur solche Vertreter zuließen, die ihren Beitritt zu einer katholischen Fraktion versprachen, wählte die 63 Mitglieder starke Partei bei Eröffnung des Reichstags (s. d.) nach ihrem Platz im Saal den Namen »Z.« Zwar erklärten Windthorst, P. und A. Reichensperger, Mallinckrodt, Jörg u. a., daß die Fraktion keine konfessionelle, sondern eine politische sei, und das Programm, das die »Germania«, seit 1. Jan. 1871 Preßorgan der Fraktion, 19. Juni 1871 veröffentlichte (»Die Fraktion stellt sich zur besondern Aufgabe, für Aufrechterhaltung und organische Fortbildung verfassungsmäßigen Rechts im allgemeinen und insbesondere für die Freiheit und Selbständigkeit der Kirche und ihrer Institutionen einzutreten«), war farblos. Aber in Wirklichkeit war die Verteidigung der Rechte der Kirche nach den Vorschriften des Papsttums von Anfang an das einzige Ziel der Partei, die sich zu diesem Zwecke mit allen politischen Schattierungen zu verschmelzen bereit war. Da das Deutsche Reich die Erwartung, daß es einen Kreuzzug gegen Italien zur Wiederherstellung des Kirchenstaates unternehmen werde, täuschte, so nahm das Z. eine oppositionelle Haltung gegen die Reichsregierung an. Im preußischen Landtag erlangte es eine erhöhte Bedeutung durch den 1871 ausbrechenden Kulturkampf. Im Landtag stieg die Zahl der Mitglieder 1879 auf 95, im Reichstag 1878 mit Hospitanten auf mehr als 100, wozu noch die befreundeten Welfen, Polen und Elsässer kamen. Im 1878er Programm wurden vor der Forderung auf Bewahrung des verfassungsmäßigen Grundcharakters des Deutschen Reiches als eines Bundesstaates aufs neue freie Bewegung für die Kirche und Beseitigung der Reichsgesetze verlangt, welche die Selbständigkeit und die Rechte der Kirche beeinträchtigten. Ferner sollte Beschränkung der Reichsausgaben (namentlich beim Heerwesen) ins Auge gefaßt, berechtigten Ansprüchen der Landwirtschaft, der Gewerbe und des Arbeiterstandes Rechnung getragen werden. Des langen Harrens auf den Sieg der Kirche müde und auf eine Wendung an höchster Stelle zu ihren gunsten hoffend, unterstützte die Zentrumspartei 1879 die neue Zoll- und Wirtschaftspolitik des Reichskanzlers. Als dieser, in der Hoffnung, das Z. zu sich herüberzuziehen oder zu sprengen, die Revision der Maigesetzgebung und die Versöhnung mit dem Papst durchsetzte, nahm das Z. die Zugeständnisse nur spröde an und verharrte besonders im Reichstag, wo es 1881–87 und 1890 bis 1906 die ausschlaggebende Partei war, in der Opposition. Windthorst riß die Leitung der Partei ganz an sich, stimmte in der Polenfrage und beim Septennat sogar gegen den Wunsch Leos XIII. wider die Regierung und gab den Kampf um die Schule als neue Parteiparole aus. Spaltungen zwischen den aristokratischen und demokratischen Gliedern der Partei wurden, selbst nach dem Tode Windthorsts (1891), schließlich überwunden. In dem langen Wahlaufrufe von 1893 ward hauptsächlich auf die Umwandlung des Reiches in einen Militärstaat, die übermäßige Belastung des notleidenden Nährstandes hingewiesen, die zweijährige Dienstzeit gefordert und neben vielem andern die Wiederherstellung des Christentums als Grundlage des öffentlichen wie privaten Lebens, der Gesetzgebung und Verwaltung verlangt. Ferner ward behauptet, daß das Z. bei der Arbeiterversicherungs- und Arbeiterschutzgebung, bei der Neuregelung des Innungswesens, bei der Bekämpfung des Wuchers, bei der Umkehr zu einer den Interessen der Landwirtschaft und der Industrie gerecht werdenden Zoll- und Wirtschaftspolitik, zur berufsorganisatorischen Vertretung der Landwirtschaft den Vortritt genommen oder ausschlaggebend mitgewirkt habe. Nachdem besonders 1903–06 das Z. durch seine Macht und Herrschsucht im Reichstag einen maßgebenden Einfluß auf die Regierung ausgeübt hatte und gewissermaßen Regierungspartei geworden war, verlor es durch die mit der Reichstagsauflösung vom 13. Dez. 1906 und den Wahlen von 1907 einsetzende »Blockpolitik« diese Stellung und bildete im Verein mit den stark verminderten Sozialdemokraten die Opposition. Über die Zahl der Anhänger des Zentrums im Reichstag vgl. die Karte »Reichstagswahlen«; im preußischen Abgeordnetenhause saßen im Mai 1908: 96 Zentrumsangehörige. Vgl. Specht und Schwabe, Statistik der Reichstagswahlen nebst den Programmen der Parteien (2. Aufl., Berl. 1904); Erzberger, Die Zentrumspolitik im Reichstage, eine Übersicht über die Tätigkeit 1903–1908 (das. 1907–08, 3 Tle.); Siebertz, Politisches ABC-Buch. Ein Handbuch für die Mitglieder und Freunde der Zentrumspartei (Stuttg. 1900, 2 Bde.); M. Spahn, Das deutsche Z. (Mainz 1907); Goetz, Das Z. eine konfessionelle Partei (Bonn 1906); L. v. Savigny, Des Zentrums Wandlung und Ende (Berl. 1907); Graf P. v. Hoensbroech, Rom und das Z. (Leipz. 1907).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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