Sachsengängerei

Sachsengängerei

Sachsengängerei, die alljährlich im Frühjahr erfolgende Wanderung meist unverehelichter, überwiegend weiblicher (etwa 60 Proz.) Arbeiter des östlichen Deutschland nach den westlich der Elbe gelegenen Gegen den, wo große landwirtschaftliche Betriebe und industrielle Anlagen lohnendere Beschäftigung bieten als die Heimat. Beteiligt sind besonders Polen, aber auch die Westpreußen und die Leute um Landsberg a. W. Außerdem gelangen viele ausländische Arbeiter in die Industriebezirke und landwirtschaftlich hoch entwickelten Kreise. Die Wanderarbeiter gingen zuerst hauptsächlich nach der Provinz Sachsen (daher der Name), wo der Rübenbau in der Pflanz- und Erntezeit mehr Arbeitskräfte forderte, als die Rübengüter in der Heimat zu beschaffen vermochten (daher auch Rübenwanderung). Meist werden die Sachsengänger für den Grundbesitzer durch Agenten angeworben, in der Regel selbst frühere Sachsengänger, die gewöhnlich auch die Beaufsichtigung der von ihnen gestellten Leute während der Arbeitszeit übernehmen. Mehrfach beauftragt auch der Gutsherr ältere erprobte Arbeiter und Arbeiterinnen mit der Anwerbung oder läßt diese durch eigne Beamte vornehmen. Die nächste Veranlassung für die S., die jährlich ca. 2–300,000 Personen aus dem Osten nach dem Westen führt, ist die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, in der Heimat genügenden Unterhalt zu finden. Dazu kommen noch ein gewohnheitsmäßig entwickelter oder durch das Beispiel entfachter Wandertrieb, der Wunsch, auf einige Zeit der elterlichen Zucht zu entrinnen, u. dgl. Im Westen findet der Sachsengänger höhern Verdienst, er macht Ersparnisse, von denen er im Winter lebt, oder die er zur spätern Gründung eines eignen Hausstandes oder zur Befestigung seiner wirtschaftlichen Existenz benutzt Die S. wirkt auch in mehrfacher Beziehung erzieherisch, sie weckt den Sinn für Sparsamkeit, Ordnung, Sauberkeit. Sie hat freilich den Nachteil, daß durch sie die wenigen, der Landwirtschaft treu gebliebenen einheimischen Arbeiter im Westen verdrängt, und daß den Gutsbesitzern im Osten die notwendigen Arbeitskräfte entzogen werden, so daß sie genötigt sind, Arbeiter (Preußengänger) aus Russisch-Polen, Galizien, auch aus Italien heranzuziehen. Den sonst mit der S. verbundenen Übelständen: Ausbeutung durch Agenten, Lockerung der Sitten u. dgl., ist durch Maßregeln der Verwaltungsbehörden und der Gutsbesitzer, namentlich durch Erbauung geeigneter Wohnungen mit getrennten Räumen für Männer und Frauen, mehrfach erfolgreich entgegengearbeitet worden. Trotz der angeordneten ärztlichen Untersuchung und Schutzimpfung, der Isolierung der fremden Arbeiter von den heimischen in den ersten 4–6 Wochen, verschleppen die Sachsengänger zahlreiche Krankheiten über die ganze Monarchie, namentlich die Körnerkrankheit, Pocken (aus Rußland, Österreich, Belgien), Typhus, Ruhr, Krätze und Syphilis. Vgl. Kärger, Die S. (Berl. 1890); »Schriften des Vereins für Sozialpolitik«, Bd. 53–55: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland (Leipz. 1892); Sering, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland (ebenda, Bd. 56, 1893); Stutzke, Die Preußengängerei russisch- und galizisch-polnischer Arbeiter (Neudamm 1903); J. v. Trzciński, Russisch-polnische und galizische Wanderarbeiter im Großherzogtum Posen (Stuttg. 1906).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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