Merkantilsystem

Merkantilsystem

Merkantilsystem (Merkantilismus, System der Handelsbilanz, Handelssystem, auch Colbertismus genannt, weil Colberts Verwaltung auf merkantilistischen Grundlagen ruhte), der zusammenfassende Name für diejenigen volkswirtschaftlichen Anschauungen und Bestrebungen, die vom 16. bis Mitte des 18. Jahrh. in Theorie und Praxis die herrschenden waren. Der Grundgedanke des Merkantilsystems ist der, daß der Reichtum eines Landes ausschließlich oder vorwiegend auf dem Besitz baren Geldes beruht. Einen Beleg für diesen Satz bot den Merkantilisten die Tatsache, daß seefahrende Nationen und Handelsstädte zu Macht und Wohlstand gelangt waren. Als Maßregeln zur Erreichung des Zieles wurden von den Merkantilisten hauptsächlich empfohlen: 1) Ausnutzung der vorhandenen Edelminen, 2) Vermehrung der produzierenden Kräfte, 3) richtige Regelung und Hebung des Handels und der heimischen Produktion. Ein Staat, der seinen wahren Vorteil versteht, meinte ein Merkantilist, soll Gold- und Silberbergwerke bauen, auch wenn sie nur eine geringe Ausbeute geben, ja die sogar mit Verlust gebaut werden müssen. Auch sollen die Untertanen durch allerlei Freiheiten und Unterstützungen zum Bergbau aufgemuntert und angereizt werden; die Regierung soll armen Werken auf alle Art zu Hilfe kommen etc. Da aber die europäischen Bergwerke keine hohe Ausbeute an edlem Metall versprachen und letzteres bei ungünstigem Stande des internationalen Handels leicht in das Ausland abfließen konnte, so sollte für eine richtige Regelung der Handelsbilanz (s. d.), d. h. dafür gesorgt werden, daß die Einfuhr an Waren kleiner werde als die Ausfuhr, mithin das Inland einen Überschuß an Geld empfange. Durch staatliche Handels- und Zollpolitik sollte die Einfuhr von fertigen Produkten möglichst beschränkt werden, zumal wenn diese im Inland selbst erzeugt werden könnten. Insbesondere bekämpfen viele deutsche Schriftsteller in patriotischem Eifer die Einfuhr von französischen und welschen Waren, namentlich von Modewaren. Dagegen wird die Einfuhr von Rohstoffen, zumal wenn die daraus hergestellten fertigen Produkte wieder außer Landes gebracht werden, begünstigt. Lieber aber ist es dem Merkantilisten, wenn auch die Rohstoffe im Inland erzeugt werden, weil letzteres von andern Staaten dann nicht »dependiere«. Während die Ausfuhr von solchen Rohstoffen möglichst beschränkt werden soll, will man die von fertigen Produkten durch mancherlei Mittel befördert wissen, wie durch Gewährung von Privilegien, Steuerfreiheit, Rückzöllen und Ausfuhrprämien, Ermäßigung der Herstellungskosten (billiges Holz aus Staatswäldern, staatliche Festsetzung einer höchsten Grenze für die Preise von Lebensmitteln, für Arbeitslöhne etc.). Ein Hauptaugenmerk wird deshalb, namentlich von Colbert, den Exportindustrien zuteil. Für Hebung der Industrie soll durch Ausbildung tüchtiger Arbeitskräfte sowie auch durch Heranziehung fremder gesorgt werden, die aber dann dauernd im Lande festgehalten werden sollen, um nicht das erworbene Geld wieder außer Landes zu bringen. Im Interesse von Industrie und Handel soll eine mitunter sehr ins einzelne gehende und beengende Kontrolle über Manufaktur und Fabrikation ausgeübt werden. Man empfiehlt ferner Gewährung von Handelserleichterungen, einer prompten, billigen Justiz, Anlegung und Förderung von Messen, Märkten, Verkaufsmagazinen und Verkehrsmitteln, Sicherung von gutem Geld, richtigem Maß und Gewicht u. dgl. Zur Erweiterung des Absatzgebiets für die heimische Produktion und zur Sicherung eines billigen Bezugs unentbehrlicher fremder Waren sollen die Abschließung günstiger Handelsverträge, Gründung von Handelskompanien, Anlegung von Kolonien und Beförderung der nationalen Schifffahrt durch Bevorzugung der Schiffe des eignen Landes dienen. Fast allen Merkantilisten war auch eine Überschätzung der Bedeutung der Volkszahl eigen. Ein Land, meinte man, könne »nie zuviel Einwohner« haben. Denn die Bevölkerung enthalte »alle Mittel, den gemeinschaftlichen Wohlstand zu fördern«. Deshalb sollen sich »alle Maßregeln und Anstalten des Regenten darauf zuspitzen, die Volksmenge zu erhalten und zu mehren«. Als solche werden angeführt: 1) Maßregeln zur Förderung des ehelichen Lebens (z. B. Hagestolzensteuer, Belohnung des Kinderreichtums, Unterstützung Neuverheirateter), 2) Sorge für eine gesicherte Existenz (Förderung von Gewerbe und Landeskultur, Anstalten zur Sicherung des Lebens etc.), 3) Beeinflussung von Aus- und Einwanderung, insbes. Anziehung von reichen Fremden durch Gewährung von Titeln und Würden, Freiheiten u. dgl. Diese Überschätzung war zum Teil in den damaligen politischen und wirtschaftlichen Zuständen begründet. Die Bevölkerung war in mehreren Ländern unter anderm durch lang dauernde Kriege stark zusammengeschrumpft, während das System der stehenden Heere eine Zunahme als sehr wünschenswert erscheinen ließ.

Ein Hauptfehler der Merkantilisten war, daß sie die Gesetze der Verteilung verkannten, indem sie sich meist auf den einseitigen Standpunkt eines einzelnen Industriezweigs stellten, daß sie die Produktionskosten unrichtig berechneten, indem sie die anderweite Verwendbarkeit nutzbarer Kapital- und Arbeitskräfte außer acht ließen und dadurch einen falschen Maßstab zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit sich bildeten. Der Meckantilismus hat als Wirtschaftspolitik der geklärten Monarchie sicher viel für die Hebung des nationalen Wohlstandes geleistet, aber manche wohlgemeinte Anordnung hat durch ein Übermaß von Bevormundung statt förderlich, auf die Industrie lähmend eingewirkt, wie denn das bekannte Reglement Colberts von 1666 in vielen Beziehungen allzu beschränkend war. Zu den merkantilistisch gesinnten Staatsmännern gehörte neben Colbert besonders Cromwell, als Merkantilist bekannt durch seine Navigationsakte (s. d.), zu den Schriftstellern zählen in Italien Serra, Genovesi, in Frankreich Melon, Forbonnais, in England Mun, Child, Temple, Stewart, in Deutschland Klock, Becher, Seckendorff, Schröder, auch Justi und Sonnenfels. Das M., gegen dessen extreme Vertreter sich schon einige gemäßigtere Merkantilisten selbst gewendet hatten, wurde mit Erfolg von den Physiokraten und A. Smith und der von ihnen angebahnten nationalökonomischen Richtung bekämpft. In der Praxis waren es vorzüglich die französische Revolution, die Dampfkraft und die Verbesserung der Verkehrsmittel, denen viele merkantilistische Einrichtungen und Ideen weichen mußten. Vgl. Bidermann, Über den Merkantilismus (Innsbruck 1870); Cohn, Colbert (in der »Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft«, Tübing. 1869 u. 1870); Schmoller, Der Merkantilismus in seiner historischen Bedeutung (im »Jahrbuch für Gesetzgebung«, Leipz. 1884); Leser, Merkantilsystem (im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, 2. Aufl., Bd. 5, Jena 1900); Oncken, Geschichte der Nationalökonomie, Bd. 1 (Leipz. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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