Lotze

Lotze

Lotze, Rudolf Hermann, Philosoph und Physiolog, geb. 21. Mai 1817 in Bautzen, gest. 1. Juli 1881 in Berlin, studierte in Leipzig Philosophie und Medizin, wurde 1842 daselbst zum außerordentlichen Professor der Philosophie, 1844 zum ordentlichen Professor in Göttingen ernannt und 1881 in gleicher Stellung nach Berlin berufen, wo er aber nicht einmal ein Semester hindurch Vorlesungen halten konnte. Seine Schriften sind: »Metaphysik« (Leipz. 1841); »Allgemeine Pathologie und Therapie als mechanische Naturwissenschaften« (das. 1842, 2. Aufl. 1848); »Logik« (das. 1843); »Über den Begriff der Schönheit« (Götting. 1846); »Über die Bedingungen der Kunstschönheit« (das. 1848); »Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens« (Leipz. 1851); »Medizinische Psychologie oder Physiologie der Seele« (das. 1852; Neudruck, Götting. 1896); »Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit« (Leipz. 1856–64, 3 Bde.; 5. Aufl. 1896ff.), sein Hauptwerk, in dem er seine ganze Weltanschauung niedergelegt und ein würdiges Seitenstück zu Herders »Ideen« geliefert hat; ferner »Geschichte der Ästhetik in Deutschland« (Münch. 1868) und »System der Philosophie« (Bd. 1: Logik, Leipz. 1874, 2. Aufl. 1880; Bd. 2: Metaphysik, 1879, 2. Aufl. 1884). Nach seinem Tod erschienen Diktate aus seinen Vorlesungen in 8 Heften (Leipz. 1882–84; öfter aufgelegt) und »Kleine Schriften« (das. 1885–94, 3 Bde.). Über sein Verhältnis zu Herbart, Weiße und Leibniz hat er sich ausgesprochen in seinen »Streitschriften« (1. Heft, Leipz. 1857) gegen J. H. Fichte. Seine Werke zeichnen sich sämtlich durch vornehme Haltung und geschmackvolle, nicht immer ungesuchte Darstellung aus. Als Physiolog hat L. die Annahme der »Lebenskraft« heftig bekämpft und den Mechanismus verteidigt. Als Philosoph hat L. von Weiße und Herbart Anregungen erfahren und verdankte insbes. dem erstern viel, während er es entschieden ablehnte, Herbartianer zu sein; am meisten fühlte er sich nach seiner eignen Aussage von Leibniz angezogen, doch hat er auch manches von Spinoza genommen. Seinen philosophischen Standpunkt bezeichnet er als teleologischen Idealismus, indem die Metaphysik ihren Anfang nicht in sich selbst, sondern in der Ethik haben soll. Er will einen Frieden stiften zwischen den Ergebnissen der Wissenschaft und den Bedürfnissen des Gemüts. Volle Wahrheit kann die Philosophie nicht erreichen, sie soll nur eine widerspruchslose Weltanschauung gewinnen, die uns wertvolle Ziele in dem Leben setzt und sie zu erreichen lehrt. Das Seiende muß seinem Begriffe nach in Beziehungen stehen, was nicht möglich wäre, wenn nicht die Veränderung in dem einen zugleich ein Leiden im andern wäre. So kann eine Trennung zwischen den Dingen nicht angenommen werden, sondern eine gegenseitige Einwirkung der Dinge auseinander ist nur möglich, wenn sie alle Teile einer einzigen, unendlichen Substanz sind, also eine substanzielle Wesensgemeinschaft aller Dinge existiert. Zugleich müssen diese Dinge, um in Wechselwirkung stehen zu können, ein Fürsichsein haben, fühlen, so daß sie, nur in verschiedenen Graden, den Charakter der Geistigkeit besitzen, geistige Monaden sind. So gilt der Satz, daß alles Reale geistig ist. Die Seele ist eine einzelne unsinnliche Substanz, der Körper ist aus vielen zusammengesetzt, so daß zwischen Seele und Körper eine Wechselwirkung wie sonst zwischen den Dingen stattfindet. Die allgemeine unendliche Substanz, deren Modifikationen die einzelnen Mon. den sind, ist auch das eine und höchste Gut, weil sie der Grund ist der Ideen des Guten, Schönen und Wahren. Durch die Welt des Seienden sollen Werte verwirklicht werden: das Gute ist Grund und Zweck der Welt. Wie freilich aus dem Absoluten oder der Idee des Guten die Welt in ihrer vorliegenden Beschaffenheit hat hervorgehen können, das ist uns ein unlösbares Rätsel. Der Begriff des Guten ist übrigens mit dem der Luft eng verknüpft: bei dem Handeln muß Rücksicht auf zu gewinnende Luft genommen werden, da man sonst nicht wüßte, wozu etwas geschehen sollte. Das Unendliche erhält seinen Inhalt durch den vollen Begriff Gottes, zu dem auch die Persönlichkeit gehört. Die große Bedeutung Lotzes, der sehr viele Verehrer in den gebildeten Kreisen der Gegenwart, namentlich unter Theologen, hat, besteht darin, daß er, mit den exakten Wissenschaften wohl vertraut, trotz aller Kritik, die er anwendet, den Idealismus doch in den Vordergrund stellt und so zu einer Weltanschauung gelangt, in der das Ethische und Religiöse zu ihrem vollen Rechte kommen. Lotzes Bildnis s. Tafel »Deutsche Philosophen II«. Vgl. E. Pfleiderer, Lotzes philosophische Weltanschauung (2. Aufl., Berl. 1882); Caspari, Hermann L. in seiner Stellung zu der Geschichte der Philosophie (2. Aufl., Bresl. 1895); Koegel, Lotzes Ästhetik (Götting. 1886); E. v. Hartmann, Lotzes Philosophie (Leipz. 1888); Vorbrodt, Prinzipien der Ethik und Religionsphilosophie Lotzes (2. Aufl., Dessau 1892); Schröder, Geschichtsphilosophie bei L. (Leipz. 1896); Seibert, L. als Anthropologe (Wiesbad. 1900); Falckenberg, Hermann L. (Stuttg. 1901, Bd. 1); H. Schoen, La métaphysique de Herm. L. (Par. 1902); Else Wentscher, Das Kausalproblem in Lotzes Philosophie (Halle 1903); Chelius, Lotzes Wertlehre (Erlang. 1904).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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