- Arbeitseinstellung
Arbeitseinstellung (Ausstand, Streik, vom engl. Strike, franz. Grève) ist die gemeinsam erfolgte, freiwillige Niederlegung der Arbeit seitens der Arbeiter zum Zweck der Erzielung günstigerer Arbeitsbedingungen. Die meisten Arbeitseinstellungen beziehen sich auf die Lohnhöhe, doch können auch andre Verhältnisse des Arbeitsvertrages zu Streiks führen. Nicht selten veranlassen die Arbeiter einzelner Industrien eine A., um andre feiernde Genossen zu unterstützen (Sympathiestreiks). Die Streiks sind entweder Abwehrstreiks, um einer beabsichtigten Verschlechterung der Arbeitsbedingungen entgegenzutreten, oder Angriffstreiks, um selbständig vorteilhaftere Bedingungen zu erreichen.
Die Geschichte der Streiks reicht, wenn man die Aufstände unfreier Arbeiter im Altertum außer Betracht läßt, bis ins 14. Jahrh. zurück. Es sind aber wohl Fragen der Standesehre, die damals die Gesellen zunächst zum Ausstand führten. Erst mit dem Aufkommen des kapitalistischen Betriebes in den Zünften und der dadurch bedingten sozialen Kluft zwischen Meister und Gesellen setzten auch rein wirtschaftliche Kämpfe zwischen diesen ein. Mißbrauch der Gewalt der Meister. Anwendung des Trucksystems (s. d.), Beschränkung der Feiertage, übermäßiges Lehrlingshalten etc. erzeugten bei den Gesellen Verbitterung und Gärung und bewirkten deren Zusammenschluß zu Genossenschaften und Kampforganisationen. Die älteste bekannte A. in Deutschland ist die der Breslauer Gürtlergesellen 1329. Neben den Ausständen wurde das »Schelten«, d.h. das Unehrlicherklären der Gesellenbruderschaften gegen widerspenstige Mitglieder wie auch gegenüber den Meistern, als Kampfmittel geübt. Als die Ausstände immer häufiger wurden und immer mehr Auswüchse im Gefolge hatten, suchte das Reich durch verschiedene Reichsabschiede, Mandate, Polizeiordnungen, wie das Zunftwesen überhaupt, so das Gesellenwesen zu regeln, freilich ohne Erfolg. Auch das Reichsgutachten von 1672, das den Handwerkern die Autonomie absprach, Streiks, Kontraktbruch, Verrufserklärungen bestrafen, die Gesellenverbindungen aufheben wollte, war ohnmächtig gegenüber den immer mehr überhandnehmenden Mißständen. In folge eines großen Aufstandes der Tuchknappen in Lissa 1723 drang Preußen in Wien auf Ordnung der Verhältnisse, und nach der heftigen Revolte der Schuhmachergesellen in Augsburg 1727 kam es zu dem Reichsgesetz von 1731, das wenigstens in Brandenburg und Hannover, wo es mit Strenge durchgeführt wurde, zum Ziele führte. Auch in England und Frankreich suchte man auf dem Wege der Gesetzgebung die zwischen den Meistern und Gesellen schwebenden Streitigkeiten zu unterdrücken. Ein Gesetz von 1549 hatte Koalitionen ganz verboten, im 18. Jahrh. wurden aber die Streiks wieder häufiger. In Frankreich führte eine Reihe von Streiks im 16.–18. Jahrh. zu dem Koalitionsverbot von 1791. Allmählich errang überall die polizeiliche Gewalt den Sieg; mit der Herabdrückung und Beseitigung der Zünfte verschwanden auch die Gesellenorganisationen.
Inzwischen hatte aber die neuerstandene und rasch sich ausbreitende Großindustrie das Gewerberecht durchbrochen und den Boden für neue Arbeiterorganisationen und Arbeiterkämpfe gegeben.
Die Heimat der modernen A. ist England. Hier hatte die rasch zur Blüte gelangte Großindustrie eine bedenkliche Übermacht des Unternehmers über die Arbeiter geschaffen und die Arbeitsbedingungen erheblich verschlechtert; neue technische Erfindungen und schwankende Konjunkturen erzeugten zeitweise eine bis dahin nicht bekannte Arbeitslosigkeit. Die von den erbitterten Arbeitern verursachten Aufstände wurden, da alle Koalitionen verboten waren, mit Strenge unterdrückt. Im J. 1824 fielen die Koalitionsverbote, und die nächste Folge war eine rasche Vermehrung der Koalitionen und Streiks. Aber die dem Chartismus (s. d.) verfallenen Arbeiter konnten mit ihren vielfach unbesonnenen Arbeitseinstellungen und ihrem ungesetzlichen Vorgehen keine Erfolge erringen. Erst als die Arbeiter von dem politischen Radikalismus abstanden und in ernster Arbeit die gewerkvereinliche Organisation schufen (s. Gewerkvereine), wurde ihr Vorgehen auch da, wo sie zum Kampfmittel der A. griffen, ein geschäftsmäßiges und besonneneres. Die Streiks hörten zwar nicht auf, aber sie wurden ohne Gesetzesverletzungen und Revolten durchgeführt. In dem Zeitraum 1870–80 wurden 2352 Einstellungen gezählt; der größte Streik fand 1879 unter den Baumwollarbeitern in Lancashire statt, bei dem 300,000 Arbeiter 9 Wochen lang feierten. Den Arbeiterverbänden setzten nun die Unternehmer auch ihrerseits Verbände entgegen. Die gegenseitigen Reibungen und Kraftproben führten zu größerer Vorsicht in der Anwendung von Arbeitseinstellungen und Aussperrungen und zu erfolgreichen Versuchen, durch Einigungs- und Schiedskammern Streitigkeiten friedlich zu begleichen. Seit Ende der 1880er Jahre, als die englische Industrie mit stark schwankenden Konjunkturen zu rechnen hatte, traten auch die sogen. ungelernten Arbeiter auf den Kampfplatz, und die Streiks nahmen an Zahl, Umfang und Erbitterung der Parteien wieder erheblich zu. Erwähnenswert sind die Ausstände der 18,000 Londoner Dockarbeiter 1889, der über 100,000 Kohlenbergleute im Yorkshire-, Lancashire- und Midland-Kohlendistrikt 1890, die A. der 422,000 Kohlengräber 1893, der Maschinenbauer 1897.
In Deutschland beginnt eine umfangreichere Streikbewegung erst Ende der 80er Jahre. Es fehlt allerdings auch in den frühern Jahrzehnten nicht an vereinzelten Ausständen, sie beschränkten sich aber auf einzelne Branchen (Leipziger Buchdrucker 1865). Erst mit der Ausbildung der Gewerkvereine, noch mehr der sozialdemokratischen Gewerkschaften, nahmen die Streiks wieder zu (Kohlengräberausstand im Ruhrgebiet 1872), genährt durch die Gründungszeit zu Beginn der 70er Jahre und vor allem durch die darauffolgende ungünstige Konjunktur. In das Jahrzehnt 1880–90 fallen zahlreiche gewerkschaftliche Lohnkämpfe, in welche die Buchdrucker, die Arbeiter im Bauhandwerk und der Metallindustrie, später auch die Tischler, die Tabakarbeiter, die Textilarbeiter verwickelt waren. Ins Jahr 1889 fällt der erste große Massenstreik, der der Kohlenbergleute. Die ungelernten Arbeiter sind erst 1896/97 in dem großen Streik der Hamburger Hafenarbeiter hervorgetreten. Im allgemeinen sind die deutschen Arbeiter ohne genügende finanzielle Mittel in den Kampf getreten, so daß die durch die Arbeitseinstellungen verursachten Kosten häufig in keinem Verhältnis zu den Erfolgen standen.
Auch in Österreich ist die Streikbewegung ziemlich neuen Datums. Schuld hieran ist die Jugend der gewerkschaftlichen Organisation und die politische Zerfahrenheit. Erst seit Ende der 1880er Jahre entstanden zahlreiche, vom Sozialismus geleitete kampflustige Organisationen. Unter den Streiks sind erwähnenswert die der Tramwayarbeiter in Wien 1889, der Textilarbeiter im Neunkirchener Revier (1893–96), der Bergarbeiter in Böhmen und Mähren (1889,1896 und besonders 1900).
In Frankreich gibt es schon seit dem Beginn des 19. Jahrh. trotz des Koalitionsverbotes zahlreiche soziale Kämpfe; namentlich aber weisen die 80er Jahre fast auf allen Gebieten größere Arbeitseinstellungen auf. Besonders reich an solchen ist das Jahr 1893, wo 174,000 Arbeiter in den Ausstand getreten waren (der bedeutendste war der der Bergwerksarbeiter im Departement de Calais). Das Jahr 1895 brachte neben zahlreichen Streiks in der Textilindustrie den Streik unter den Glasarbeitern in Charmaux. In der jüngsten Zeit haben namentlich die Streiks der Bergarbeiter in Monceaux-les-Mines von sich reden gemacht.
In den Vereinigten Staaten sind Arbeitseinstellungen ziemlich häufig, und sie haben bis zur Gegenwart nicht selten einen ungesetzlichen und gewalttätigen Charakter, was zum Teil durch den ständigen Wechsel in der Arbeiterbevölkerung und den dadurch bedingten Mangel an Tradition in den Vereinen, die größern Lebensansprüche, das gesteigerte Selbstbewußtsein, die sprungweise wirtschaftliche Entwickelung, den ganzen demokratischen Geist des Landes erklärt wird. Auch die große Rücksichtslosigkeit der Unter nehmer und das von diesen häufig geübte Mittel der Aussperrung veranlaßt zahlreiche Kämpfe. So spielen die Streiks wegen reiner Machtfragen zwischen den Arbeiter- und Unternehmerverbänden hier eine bedeutende Rolle. Besonders reich an Arbeitseinstellungen war das Jahr 1886, in dem mehr als 500,000 Arbeiter feierten und weitere 100,000 ausgesperrt wurden. In den Jahren 1893/94 brach ein allgemeiner Bergarbeiterausstand, veranlaßt durch Lohnreduktionen, aus; zu gleicher Zeit kam es auch unter den Eisen bahn leuten zu Unruhen, Streiks und Aussperrungen.
Besonders zahlreich und heftig sind Arbeitseinstellungen in Belgien, wo solche namentlich in den Hüttenwerken zu Charleroi, in Bergwerken zu Seraing, Mons und im Hennegau, in der Metallindustrie und andern Branchen zu Gent, bei den Dockarbeitern zu Antwerpen vorgekommen sind.
Eine kritische Würdigung der A. hat von dem Anerkenntnis auszugehen, daß für den Arbeiter die Koa lition ein wesentliches Mittel darstellt, um seine, dem Unternehmer gegenüber ungünstigere Stellung beim Abschluß des Arbeitsvertrags zu verbessern. Durch die A. als letztes Mittel in dem Kampf um die Arbeitsbedingungen, oft auch nur durch die Streikandrohung können die Arbeiter unter der Voraussetzung starker Vereinigungen und einer überlegten Führung ihre Forderungen nachdrücklich unterstützen und unter günstigen Verhältnissen zur Anerkennung bringen. Die unleugbare Besserung in der Lage der Arbeiter ist neben andern Ursachen doch zum Teil auf die Wirkung der Koalitionen und ihrer Machtmittel zurückzuführen. Freilich sind damit auch Schattenseiten verknüpft. Für die Arbeiter kommt in Betracht, daß die Zahl der erfolglosen Arbeitseinstellungen in der Regel weit größer ist, als die der siegreichen, daß sie den Arbeitern oft unverhältnismäßige Opfer zumuten und, falls die Erfolge nur vorübergehende sind, ein Schwanken in seinen Lebensverhältnissen bewirken. Für den Arbeitgeber bedeuten sie schwere finanzielle Schädigungen und Erschwerung seiner Stellung im Konkurrenzkampf, die freilich in letzter Linie auf den Arbeiter selbst wieder nachteilig zurückwirken. Vgl. W. Stieda u.a., Art. »Arbeitseinstellungen« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 1 (2. Aufl., Jena 1898, hier auch genaue Literaturangaben); Biermer im »Wörterbuch der Volkswirtschaft«, Bd. 1 (das. 1898); Brentano, Arbeitergilden der Gegenwart (Leipz. 1872); Schanz, Zur Geschichte der deutschen Gesellenverbände im Mittelalter (das. 1876).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.