- Antragsdelikt
Antragsdelikt (Antragsverbrechen), eine strafbare Handlung, deren strafrechtliche Verfolgung nur auf ausdrücklichen Antrag des Verletzten oder seines gesetzlichen Vertreters eintritt. Nach heutiger Rechtsanschauung hat nämlich der Staat als Träger und Schirmer der Rechtsordnung bei Rechtsverletzungen regelmäßig von Amts wegen gegen den Verbrecher einzuschreiten, da jedes Verbrechen grundsätzlich unmittelbar oder mittelbar gegen die Rechtsordnung selbst gerichtet ist. Von dieser Regel wird jedoch in Ansehung zweier Gruppen von Verbrechen (im engern Sinne) und Vergehen eine Ausnahme gemacht und deren strafrechtliche Verfolgung nur auf ausdrücklichen Antrag des Verletzten verfügt. Es gibt nämlich gewisse Verbrechen und Vergehen, namentlich Ehrverletzungen und verwandte Fälle, deren rechtsverletzende Eigenart davon abhängt, ob der Verletzte selbst sich gekränkt fühlt, was eben durch den ausdrücklichen Strafantrag festgestellt wird (man denke an die unzüchtige Berührung eines Mädchens). Ferner gehören diejenigen Fälle hierher, in denen eine strafrechtliche Verfolgung und die dem Verbrechen dadurch gegebene Öffentlichkeit für den durch das Verbrechen Verletzten selbst in der nachteiligsten Weise kränkend wirken könnte. Letzteres gilt z. B. bei dem Verbrechen der Entführung, der strafbaren Verführung eines unbescholtenen Mädchens, dann aber auch bei dem Verwandtendiebstahl, bei dem Betrug gegen Verwandte u. dgl. Die innere Verschiedenheit der beiden Gruppen ist von der Wissenschaft vielfach erkannt, von der Gesetzgebung aber bisher unberücksichtigt gelassen worden. Das deutsche Strafgesetzbuch führt folgende Antragsdelikte auf: feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten (§ 102–104), einfacher Hausfriedensbruch (§ 123), betrügliche Eheschließung (§ 170), Ehebruch (§ 172), Verleitung zum Beischlaf durch Vorspiegelung einer Trauung (§ 179), Verführung eines unbescholtenen, noch nicht 16jährigen Mädchens zum Beischlaf (§ 182), Beleidigung (§ 189, 194–196), leichte vorsätzliche und jede fahrlässige Körperverletzung (§ 232), insofern diese nicht mit Übertretung einer Amts-, Berufs- oder Gewerbspflicht begangen worden ist, Entführung (§ 236, 237), Diebstahl, Unterschlagung und Betrug zum Nachteil von Angehörigen, Vormündern, Erziehern (§ 247, 263), Diebstahl und Unterschlagung an Sachen von unbedeutendem Werte, begangen von Lehrlingen und dem Gesinde zum Nachteil des Lehrherrn und der Herrschaft (§ 247), Beseitigung der Befriedigungsmittel bei drohender Zwangsvollstreckung (§ 288), Entziehung der eignen Sache, namentlich dem Pfandgläubiger oder Nutznießer gegenüber (§ 289), unbefugte Jagdausübung, wofern von Angehörigen des Jagdberechtigten verübt (§ 292), Verletzung des Briefgeheimnisses (§ 299), Verletzung des Berufsgeheimnisses von seiten der Rechtsanwalte, Advokaten, Notare, Verteidiger, Ärzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker und deren Gehilfen (§ 300), strafbares Kreditgeben an Minderjährige (§ 301, 302), Sachbeschädigung (§ 303) sowie unter Umständen Nahrungs-, Genußmittel- und Futterdiebstahl (§ 370, Ziff. 5 u. 6). Dazu kommen noch einzelne Fälle in den Nebengesetzen, wie z. B. im Preßgesetz, in den Gesetzen zum Schutze der Urheberrechte, im Markenschutzgesetz, Patentgesetz, Gebrauchsmustergesetz, in der Seemannsordnung, im Unfallversicherungsgesetz, Bankdepotgesetz und im Gesetz zur Bekämpfung das unlautern Wettbewerbs. Bei Antragsdelikten muß der Strafantrag bei einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft schriftlich oder zu Protokoll, bei einer andern Behörde (s. Anzeige) schriftlich angebracht werden (Strafprozeßordnung, § 156). Ähnlich wie bei den hier angeführten Verbrechen verhält es sich mit einer andern Gruppe von Fällen, in denen das deutsche Strafgesetzbuch die Ermächtigung von seiten des Verletzten zur Bedingung der Bestrafung des Verbrechers macht. Dies ist der Fall bei Beleidigungen von Bundesfürsten und von Mitgliedern der landesherrlichen Häuser, abgesehen von dem Reichsoberhaupt und dem jeweiligen Landesherrn (§ 99, 101), und bei Beleidigungen gegen eine gesetzgebende Versammlung des Reiches oder eines Bundesstaates oder gegen eine andre politische Körperschaft (§ 197). Diese Straftaten sind aber von den eigentlichen Antragsdelikten insofern verschieden, als hier nicht schon die Einleitung, sondern erst die Durchführung der Strafverfolgung durch die Erklärung des Verletzten bedingt ist. Eine Zurücknahme des einmal gestellten Antrags ist nur ausnahmsweise in den im Gesetz ausdrücklich bezeichneten Fällen zulässig. Diese letztern finden sich im Strafgesetzbuch in den oben erwähnten § 102–104, 194, 232 (leichte vorsätzliche und fahrlässige Körperverletzungen, gegen Angehörige verübt), 247, 263, 292, 303 (Sachbeschädigung einem Angehörigen gegenüber) und 370 sowie in den aufgeführten Nebengesetzen. Aber auch in diesen Fällen ist die Zurück nahme des Antrags nur bis zur Verkündung eines auf Strafe lautenden Urteils zulässig. – Nach dem österreichischen Strafgesetzbuch werden nachstehende Delikte nur auf Grund einer Privatanklage verfolgt. 1) die Vergehen gegen das literarische oder artistische Eigentum (§ 467); 2) in der Regel die Vergehen und Übertretungen gegen die Sicherheit der Ehre (Ehrenbeleidigung, § 487 ff.); 3) die Übertretungen des Diebstahls und der Veruntreuung zwischen Ehegatten, Eltern, Kindern oder Geschwistern, solange sie in gemeinschaftlicher Haushaltung leben (§ 463); 4) Ehe bruch; 5) Entehrung einer minderjährigen Anverwandten durch einen Hausgenossen und Unzucht einer dienenden Frauensperson mit einem minderjährigen, im Hause lebenden Sohn oder Anverwandten (§ 504, 505); 6) eingealterte Trunkenheit (auf Antrag des Dienstherrn, § 524); 7) größere Unsittlichkeiten (z. B. tätige Verletzung schuldiger Ehrerbietung der Kinder gegen Eltern, der Dienstleute gegen die Dienstherren etc.).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.