Glieder, künstliche

Glieder, künstliche

Glieder, künstliche (Ersatzglieder, Prothesen), aus Holz, Metall, Kautschuk etc. angefertigte Apparate, die nach Verlust eines Körperteils oder Gliedes (Hand, Arm, Fuß, Bein) an den Stumpf desselben angefügt werden, um das verloren gegangene zu ersetzen oder die Entstellung zu mindern. Schon Cajus Plinius Secundus erzählt von dem Gebrauch einer künstlichen eisernen Hand im zweiten Punischen Kriege. Bekannt ist die eiserne Hand des Götz von Berlichingen, die, 1,5 kg schwer, ihm die 1504 vor Landshut in Bayern abgeschossene rechte Hand ersetzte (über dieselbe vgl. v. Mechel, Berl. 1815). Zweckmäßig konstruierte k. G. ersetzen die Funktion des verloren gegangenen Gliedes oft sehr vollkommen, erlauben z. B. das Stehen und Gehen, sogar ohne Krücke nach Verlust des Beines, bei entsprechender Übung befähigt das Ersatzglied selbst zu den kompliziertesten Bewegungen, z. B. zum Schreiben mit der künstlichen Hand. Auch ästhetische Rücksichten und der nachteilige Einfluß, den der Verlust größerer Gliedmaßen auf Stellung und Haltung des Rumpfes ausübt, empfehlen den Gebrauch künstlicher Glieder. Bei allen künstlichen Gliedern kommen folgende drei Faktoren in Betracht: 1) der Körper oder die Hülse soll in ihrer äußern Form dem abgesetzten Gliede so ähnlich wie möglich und bei möglichst geringem Gewicht genügend fest und dauerhaft sein. Man formt sie aus gebohrtem Holz (meist Linden- oder Weidenholz), aus Leder (eventuell verschnürbar), vorzugsweise aber aus Hartgummi. Zuweilen werden die Hülsen zur Erreichung größerer Festigkeit noch mit Stahlschienen versehen; vollständige Metallhülsen sind außer Gebrauch gekommen. 2) Der Mechanismus verbindet die Hülsenteile und vermittelt gewisse Stellungen und Drehbewegungen derselben. Bei künstlichen Beinen ist ein dreifacher Mechanismus erforderlich: für die Bewegung im Kniegelenk, im Sprunggelenk und an den Zehen. Die Gelenke werden im allgemeinen durch ein Winkel- oder Scharniergelenk nachgeahmt. Besonders fest und dauerhaft muß der Kniegelenksmechanismus gearbeitet sein. 3) Die Hilfsapparate dienen teils zur Befestigung des künstlichen Gliedes am Gliedstumpf oder am Rumpf des Trägers, z. B. Beckengürtel, Achselträger etc., teils nehmen sie den Stumpf auf und erhalten ihn in seiner Form, verhindern stärkere Verschiebung der Weichteile an demselben und schützen ihn auch vor Druck etc. Der den Stumpf aufnehmende Teil hat gewöhnlich die Form eines gepolsterten, dem Stumpf angepaßten und mit weichem Leder überzogenen Trichters.

Aus der großen Zahl verschiedener Konstruktionen sind folgende als die bewährtesten hervorzuheben. Für die untern Extremitäten: das Anglesey-Pottsche Bein, von Pott in Chelsea 1816 für den Marquis v. Anglesey verfertigt, ist in England sehr verbreitet. Das Bein von William Selpho in New York ist eine Verbesserung des Anglesey-Beines; es kostet ca. 600 Mk. Das vom Mechaniker Beckmann in Kiel nach Esmarchs Angabe konstruierte Bein enthält einen guten Kniegelenkmechanismus und eine federnde Vorrichtung zur Beugung des Kniegelenks und Streckung des Fußgelenks (Preis 150 Mk.). Die Oberschenkelhülfe ist ein Korb aus Stahlstangen, Kniemechanismus aus Holzteilen mit Stahlspirale hinten und Gummigurt vorn zur Regulierung der Streckung. Der Mechanismus des Sprunggelenks ist ein beschränktes Kugelgelenk, der Zehenmechanismus ein Scharnier mit zwei Spiralfedern. Gewicht 2,75 kg, Preis etwa 150 Mk. Das Kunstbein von A. Marks in Philadelphia wurde sehr gelobt, der aus Weichgummi bestehende Fuß wurde aber bald zusammengedrückt, unelastisch, und nun wurde bei jedem Schritt ein starker Stoß auf den Stumpf fortgeleitet. K. G. aus Hartgummi von Marks sind leicht und dauerhaft und daher viel im Gebrauch. Mit die besten künstlichen Beine sind die von Geffers (Berlin), Pfister (Berlin), F. A. Schwabe (Berlin) u.a. Man wende sich für Bestellungen stets an größere Firmen. Die neuere Technik fertigt sehr gute künstliche Beine, mit denen die Träger lange Wege machen, in die Eisenbahn einsteigen können etc. Der Stützpunkt für künstliche Beine wird jetzt möglichst auf das Becken verlegt, sonst auf den Oberschenkel; die Stützung auf dem Knie (s. Stelze) reibt oft wund und ermüdet leichter. Prinzipiell wichtig ist ferner die Verlegung des künstlichen Kniegelenks hinter die Achse des Gliedes; erst hierdurch wird den Oberschenkel-Amputierten das sichere Gehen mit beweglichem Kniegelenk möglich gemacht. Die Gelenke werden vielfach durch polierte Glaskugeln gebildet, die in Höhlungen aus hartem Kautschuk sich frei bewegen. Sehr gelobt wird auch das Kunstbein von E. A. Frees (New York), das eine seitliche Bewegung ermöglicht, so daß der Fuß sich beim Gehen den Unebenheiten des Bodens anpaßt und der Gang wesentlich an Sicherheit gewinnt. Frees konstruiert ein Kunstbein mit einfachem (Fig. 1) und doppeltem (Fig. 2) Gelenk, das, wie die Zeichnung lehrt, auch mit Hilfe sich in ihrem Lager sehr leicht bewegender Zapfen und Zugfedern etc. hergestellt ist. Vgl. Großheim, Das Sanitätswesen auf der Ausstellung zu Chicago (Berl. 1893).

Für die obern Extremitäten gibt es viele verschiedene, teilweise sehr komplizierte Ersatzglieder. Die brauchbarsten künstlichen Oberarme bestehen aus zwei Hülsen für Ober- und Unterarm aus Leder oder Metall (getriebenes Neusilber), die durch Metallschienen am Ellbogen durch ein Scharniergelenk verbunden sind. Das Ellbogengelenk bildet eine Halbkugel, die sich im Unterarm spielend bewegt. Die Hand selbst ist aus leichtem Holz gefertigt und sitzt entweder am Vorderarm fest oder ist beweglich, indem mittels eines Ringes, der mit der gesunden Hand zu drehen ist, Ein- und Auswärtsdrehung (Pronation und Supination) ausgeführt werden können.

Fig. 1. Kunstbein mit einfachem Gelenk. Fig. 2. Kunstbein mit doppeltem Gelenk.
Fig. 1. Kunstbein mit einfachem Gelenk. Fig. 2. Kunstbein mit doppeltem Gelenk.

Nur der Daumen sedert durch im Innern angebrachte Spiralfedern zum Einklemmen leichterer Gegenstände. Für gewöhnlich steht der Arm, durch Spiralfedern gehalten, in rechtwinkliger Stellung. Für den künstlichen Unterarm ist der Mechanismus viel vollkommener. In den Gelenken der einzelnen Finger befinden sich Federn; von den Fingerspitzen gehen Darmsaiten aus, die sich hinter dem Handgelenk vereinigen und nun als zwei stärkere Stränge weitergehen. Bei der willkürlichen Beugung des Ellbogens schließen sich bei diesem Mechanismus die Finger, bei der Streckung öffnen sie sich wieder. Durch einen besondern Handgriff kann man auch bei gestrecktem Arm die Schließung der Finger erhalten. Neben diesen willkürlichen Bewegungen lassen sich mit Hilfe der andern Hand durch Druck auf verschiedene Federn noch verschiedene Stellungen der Hand, der Finger und Adduktion des Daumens ausführen. Die Hand selbst ist lackiert und mit einem schwarzen Handschuh überzogen.

Sieht man von diesen komplizierten Apparaten ab, so bleibt der beste Ersatz für einen künstlichen Unterarm folgende Vorrichtung (le Fort, Nyrop, Mathieu, Masters): An eine gut passende Hülfe, die bei kurzem Stumpf auch den Oberarm umfassen muß, werden den Zwecken der Beschäftigung entsprechende Ansatzstücke befestigt, und zwar eine mit Fingergelenken versehene künstliche Hand aus rein kosmetischen Gründen; zum Heben und Tragen von schweren Lasten dient ein starker, eiserner Haken, eine sogen. Arbeitsklaue (Fig. 3 u. 4), zum Fassen und Greifen schwerer Gegenstände eine mit einer starken Feder versehene Greifzange, und endlich zum Schreiben, Essen eine ebensolche, die aber natürlich nur mit einer schwachen Feder versehen zu sein braucht.

Der für den Ersatz des Oberarmes bestimmte Apparat wird mit Gurten an der Schulter befestigt (Fig. 5).

Fig. 3 u. 4. Arbeitsklauen. Fig. 5. Künstlicher Oberarm.
Fig. 3 u. 4. Arbeitsklauen. Fig. 5. Künstlicher Oberarm.

Wie für den Arbeiter die Arbeitsklaue mehr leistet als der schönste künstliche Arm, so hat auch das beste Kunstbein den Stelzfuß noch nicht verdrängen können, zumal seitdem man (Nyrop) die Stelze ebenfalls gelenkig gemacht und unten mit Polster versehen hat. Es kommt dazu, daß die Kunstbeine häufig die Narbe drücken, an ihr ziehen oder wunde Stellen erzeugen, so daß oft ihre Träger schließlich doch wieder zu Stock und Stelze griffen. Jedenfalls legt man nie ein Kunstbein vor völliger Vernarbung, also frühestens 8–10 Monate nach der Operation an, wobei es sich von selbst versteht, daß die Prothese für jeden Fall besonders, unter Zusammenwirken von Arzt und Techniker, gebaut werden muß. Vgl. Fritze, Arthroplastik, oder die sämtlichen bisher bekannt gewordenen künstlichen Hände und Füße (Lemgo 1842, 26 Tafeln); Martin, Essai sur les appareils prothétiques des membres inférieurs (Par. 1849); E. Meier, Über künstliche Beine (Berl. 1871); Karpinski, Studien über künstliche Glieder (im Auftrag des preußischen Kriegsministeriums, das. 1881, mit Atlas), außerdem die Handbücher der speziellen Chirurgie.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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