Blutaberglaube

Blutaberglaube

Blutaberglaube, die mannigfachen Ideen und Praktiken, die sich auf die vermeintliche Kraft und Wirksamkeit frischen Blutes, namentlich des menschlichen, gründen. Die Anschauung, daß im Blute Leben und Seele, Individualität, Kraft und Gesundheit wohnen, daß es das eigentliche Lebensprinzip sei, ist bei allen Völkern ausgeprägt und führte früh zu den Zeremonien der Blutvermischung bei Schließung der Blut- oder Halbbrüderschaft (s.d.), der Belebung der Schatten durch gespendetes Blut (s. Nekromantie) und der Entsühnung von aufgeladener Schuld durch Opferung eines Tieres und Waschung oder Besprengung mit dem vergossenen Blute beim Mithraskult und den Taurobolien (s.d.). Naturgemäß mußte dabei das Blut unschuldiger Wesen für besonders wirksam gelten, und daherspielen Kinder- und Jungfrauenopfer in primitiven Religionsgebräuchen und Sagen (Erstgeburt, Iphigenie etc.), eine große Rolle. Dem »unschuldigen Blut« ward ferner große Wirksamkeit zur Heilung hartnäckiger Krankheiten, wie Aussatz und andrer Hautausschläge (z. B. Elefantiasis), zugeschrieben. Nach der Sage erfolgte der Auszug der Juden aus Ägypten, weil der aussätzige Pharao zu seiner Heilung das Blut von 150 Judenkindern verlangt habe; im Mittelalter kehrt dasselbe Thema in der Sage Konstantins d. Gr. (bei Moses von Chorene und Cedrenus) wieder und bildet das Hauptmotiv in den Dichtungen vom Armen Heinrich, von Amicus und Amelius und in der Hirlandasage. Auch das Menstrualblut, das die Alten und viele Naturvölker für giftig hielten, galt als wirksam gegen Flechten und andre hartnäckige Hautübel. Die Epilepsie glaubte man nur durch einen Trunk warmen Menschenblutes heilbar und suchte im alten Rom das Blut sterbender Fechter aus den Wunden zu trinken, während später das aufgefangene Blut hingerichteter Verbrecher zu einem gesuchten Heilmittel ward. Durch das Blut der sogen. Vampire suchten sich die Angehörigen gegen deren nächtliche Angriffe zu sichern, es spielte in slawischen Gegenden noch während der letzten Jahrzehnte in Leichenschändungsprozessen seine Rolle. Auch viele Morde kleiner Kinder und schwangerer Frauen sind auf ähnliche abergläubische Vorstellungen zurückzuführen.

Einer besondern Richtung gehört die Beschuldigung fremder Religionsgenossenschaften an, bei ihren Entsühnungsmahlzeiten des Blutes eines gemordeten Menschen (ritueller Mord) zu bedürfen. Im römischen Reich glaubte man, daß bei den Christen jeder neu in die Gemeinschaft Aufzunehmende mit einem Dolche ein unter Opfermehl verborgenes Kind zu töten hätte, worauf alle Anwesenden an dem Bluttrank und der Menschenfleischmahlzeit teilnähmen. Soviel auch Kirchenväter und christliche Profanschriftsteller (Justinus Martyr, Tertullian, Minucius Felix u. a.) sich bemühten, diese ungeheuerliche Zumutung zu widerlegen, folgte doch jeder derartigen Anklage meist eine blutige Christenverfolgung, bis das Christentum Staatsreligion wurde. War es hier die mißverstandene Abendmahlsfeier, die den Verdacht zuerst erregte, so scheint eine mittelalterliche jüdische Zeremonie, bei der dem Andenken der vom Pharao gemordeten Judenkinder vier Becher Weins gewidmet wurden, den ersten Anlaß zu der Beschuldigung der Juden gegeben zu haben, daß sie jährlich bei ihrem Passahfest einen Christen ermordeten, um sich seines Blutes bei der Feier zu bedienen. Diese Beschuldigung tauchte zuerst bei der Judenaustreibung aus Frankreich unter Philipp II. (1180–1223) auf und kehrte seitdem wieder, wenn irgendwo um Ostern ein junger Mensch verschwand oder ermordet gefunden wurde. Mehrere solcher angeblich von Juden geschlachteter Christenkinder wurden heilig gesprochen, wie der heil. Simon von Trient (1475) und der heil. Werner, dem am Rhein mehrere Kapellen gewidmet sind.

Einen neuen Charakter gewann der B., als nach Anerkennung der Transsubstantiationslehre wiederholt blutartige Flecke auf Hostien als wunderbare Bestätigung der neuen Lehre betrachtet worden waren, z. B. bei der von Raffael gemalten Messe von Bolsena oder beim Wunderblut zu Wilsnack in der Altmark (1388). Das schon im Altertum häufig beobachtete Auftreten blutroter Flecke an Gebäck und Speisen (s. Blutendes Brot) mag die erste Veranlassung zu dieser Art von B. gegeben haben; fortan traten häufige Beschuldigungen auf, die Juden hätten sich geweihte Hostien zu verschaffen gewußt, um zu sehen, was an dem christlichen Dogma Wahres sei, und hätten so lange mit Nadeln oder Pfriemen hineingestochen, bis reichlich Blut geflossen sei. Die Juden wurden dann eingekerkert, durch Anwendung der Folter zu Geständnissen gebracht und hingerichtet. Auch hierbei bildete eine große Judenverfolgung mehr als einmal das Nachspiel der Prozesse. Unter andern wurden 1510 in Berlin 34 Juden wegen blutender Hostien hingerichtet. Vergeblich erhoben aufgeklärte Päpste, wie Benedikt XII. (gegen das Blutwunder zu Passau 1338) und Ganganelli, ja selbst jüdische Renegaten, wie Pfefferkorn, gegen die wahnwitzigen Anklagen ihre Stimme; sie haben bei dem Aufleben der Judenverfolgungen in Ungarn und Rußland, bei den Prozessen von Tisza Eszlar (1882), Korfu (1891), Xanten (1892) und Konitz (1900), überhaupt in den Kreisen fanatischer Katholiken, wie Rohling und Desportes, eine Neubelebung erfahren. Eine große Judenverfolgung war jedesmal die unausbleibliche Folge dieser Beschuldigung, die um so unsinniger ist, da den Juden selbst der Genuß von Tierblut (3. Mos. 17, Vers 10–14) aufs strengste untersagt ist. Vgl. Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit (8. Aufl., Münch. 1900); P. Cassel, Die Symbolik des Blutes (Berl. 1882); Chwolson, Die Blutanklage der Juden (Frankf. 1901).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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